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Im Jahr 2009 führte Hamburg als erstes Bundesland eine Schulreform durch, die das Sitzenbleiben unterbindet. Auch andere Bundesländer zogen nach. Doch ist diese Reform überhaupt sinnvoll?

"Versetzung gefährdet". Wohl alle Eltern fürchten sich vor dem berüchtigten blauen Brief, der nur allzu oft dem Halbjahreszeugnis der Kinder beiliegt ? zu Recht: Deutschlands Schulen lassen im Vergleich zu anderen Ländern sehr viele Kinder durchfallen. Rund 250.000 Schüler drehen pro neuem Schuljahr eine "Ehrenrunde". In Bayern werden von den 1,7 Millionen Schülern im September etwa 30.000 rückgestuft werden. In der Fachwelt gilt das System der Nichtversetzung überwiegend als altmodisch und überholt. Besonders in Verruf geriet das klassische Sitzenbleiben nach der ersten Pisastudie im Jahr 2001. In dieser hatten die deutschen 15-Jährigen im Bezug auf die erbrachte Leistung schlecht abgeschnitten, außerdem waren sie in der Höhe der erreichten Klassenstufen  hinter den Schülern anderer Staaten: Während die Schüler anderer Länder meist schon in der 10. Jahrgangsstufe waren, befanden sich von den deutschen Pisateilnehmern nur 24 Prozent in der 10. Klasse, in der 9. Stufe rund 60 Prozent. Und sogar unterhalb der neunten Klasse fanden sich noch 16 Prozent der deutschen 15-jährigen.

Als Folge solcher Studien führte Hamburg im Jahr 2009 eine Schulreform durch, die das Sitzenbleiben abschafft. Andere Bundesländer wie Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg, Hamburg, Berlin und Rheinland-Pfalz zogen hinterher und setzten die Rückstufung entweder ganz oder teilweise außer Kraft. Aufgrund der hohen Durchfallquote fordert nun auch der Bayerische Lehrerverband (BLLV) eine Abschaffung. Doch ist eine solche überhaupt sinnvoll? Wir haben die Pros und Contras des Jahrgangsstufen-Wiederholens zusammengetragen.

Contra: Laut BLLV-Präsident Klaus Wenzel ist die Rückstufung vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen "ein Wahnsinn". Pro sitzengebliebenen Schüler fallen etwa 5.000 Euro zusätzliche Kosten an, das wären in Bayern also 150 Millionen Euro für alle "Ehrenrunden-Dreher". Von diesem Geld könnte man zusätzliche Lehrkräfte einstellen oder die individuelle Förderung der Schüler unterstützen. Pädagogisch gesehen ist es eine Strafe für die Sitzenbleiber, da eine Klassen-Wiederholung als massiver Misserfolg gewertet wird. Die Schüler werden aus ihrer Klassengemeinschaft gerissen und stehen in der neuen Klasse entweder als "Versager" da, denen mangelnde Intelligenz vorgeworfen wird, oder als die, die eigentlich eh schon alles wissen müssten, da sie den Stoff ja schon einmal durchgenommen haben. Beide Fälle könnten zu Mobbing führen.

Pro: Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, meint auf unsere Nachfrage zum Thema Abschaffung des Sitzenbleibens: "Warum eigentlich soll man etwas abschaffen, was es nahezu nicht mehr gibt? Schließlich bleiben von 11,4 Millionen Schülern in Deutschland pro Jahr nur 170.000 sitzen. Das sind 1,5 Prozent." Dass mit der Abschaffung der Rückstufung viele Millionen Euro gespart werden könnten, bezeichnet Kraus als "Berechnung aus dem Elfenbeinturm." Für ihn stellt sich die Frage, "warum eine pädagogisch sinnvolle Maßnahme aus ökonomischen Gründen wegrationalisiert werden soll." Schließlich würde die Rückstufung die Wahrscheinlichkeit senken, dass ein Schüler am Ende ohne Schulabschluss und Beruf dasteht, was im Endeffekt auch ein Gewinn sei.
Für Schüler, die am Ende des Schuljahres in mehreren Kernfächern ein mangelhaftes Wissen vorzeigen, ist das Wiederholen des Schuljahres eine Chance zur "Konsolidierung in neuer Lernumgebung, zur Neuorientierung und zur Stabilisierung der Bildungslaufbahn."
Sitzenbleiben bedeutet auch keineswegs, dass Mobbing vorprogrammiert ist, denn oft sind die "Wiederholer" in den neuen Klassen die Stars, "weil sie älter, cooler und frecher sind" und werden oft zu Klassensprechern gewählt. Außerdem kann man es auch trotz einer Ehrenrunde in höhere Rangpositionen bringen, wie viele prominente Beispiele in der Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft zeigen. Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung zeigte im Jahr 2004 anhand einer Untersuchung von 2.500 ehemaligen Schülern der Geburtsjahrgänge 1961 bis 1973, dass die meisten Schüler von einer Ehrenrunde profitieren. Und Josef Kraus findet: "Eine notenfreie Schule, die die Schüler ohne Rücksicht auf deren Leistung und Begabung einfach durch die Schullaufbahn durchschiebt und am Ende Zeugnisse als ungedeckte Blankoschecks aushändigt, ist jedenfalls das letzte, was das Land der Dichter, Denker, Erfinder und der einstmals großen Pädagogen braucht."

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Foto Klassenzimmer: Manfred Jahreis  / pixelio.de
Foto Ordner: I-Vista / pixelio.de

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