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Wer das versteckte Geschäft von Waltraud Ernst und Caroline Jäger zum ersten Mal betritt, wird mit Sicherheit nostalgisch. Hohe, antike Holzregale, eine geschmackvolle Dekoration, wohltuende Gerüche sowie warmes Licht versetzen uns in eine andere, ferne Zeit zurück. Sieht man sich in dem kleinen Laden um, wird man schnell die Augen weit öffnen. Wo hat man je so viele verschiedene, handgefertigte Bürsten gesehen?

Wer dachte, es existierten nur Haar- und Schuhbürsten, wird vom Regensburger „Bürsten Ernst“ eines Besseren belehrt. Neben natürlichen Seifen und weiteren Putzmaterialien verleihen zahlreiche verschiedene Bürstentypen den meterhohen Regalen Leben. Reihe um Reihe liegen sie dort und warten auf einen passenden Käufer. Pilz- oder Espressomaschinenbürsten, kosmetische Bürsten, Kleiderbürsten, schmale Bürsten für die Zwischenräume von (antiken und verschnörkelten) Bilderrahmen sowie lange, mit einem Bogen versehene Bürsten aus weichem Ziegenhaar für hohe Bücherregale und staubanziehende Buchrücken. Selbst lästige und klebrige Spinnweben an der Decke, die beim Entfernen immer hartnäckige Flecken an der Wand hinterlassen, sind mit einer langen, geschwungenen Bürste aus etwas widerstandsfähigerem Rosshaar ohne Mühe und Rückstände in Nullkommanichts eingefangen.

Woher, stellt sich da die Frage, stammen die Ideen für so viele spezielle Bürsten? Caroline Jäger, die zusammen mit ihrer Mutter Waltraud Ernst das Geschäft führt, lächelt und erklärt, dass sich das Handwerk sehr stark am Kunden und an seinen Bedürfnissen orientiere und sich natürlich im Laufe der Zeit verändert habe. „Viele Kunden kommen und haben ein Ziel. Jedoch haben sie noch keine klaren Vorstellungen davon, wie sie da hinkommen.“ So wissen sie beispielsweise, dass ihr bisheriges Putzmaterial keine zufriedenstellenden Ergebnisse bringt. Ideen für eine Alternative haben jedoch die wenigsten, weshalb sie gerne in das Geschäft kommen und sich lange und ausführlich beraten lassen. Durch gezielte Fragen und Anregungen führt Caroline Jäger ihre Kunden dann hin zum passenden Exemplar. „Wenn wir keine geeignete Bürste finden können, dann ist es durchaus möglich, dass wir eine individuelle Anfertigung nur für einen einzigen Kunden herstellen.“ Ein besonders interessantes Exemplar in diesem Sinne ist die Wabenbürste aus Rosshaar, die speziell für Imker angefertigt wird. Mit ihrer Hilfe kann ein Imker die Bienen, die sich auf den Waben befinden, sanft herunterstreichen, ohne dabei die Bienen zu verletzen oder die Qualität des Honigs zu beeinflussen. Wer hätte gedacht, wofür man alles Bürsten verwenden kann! Für Caroline Jäger ist umfassende Beratung zugleich Ausdruck der hohen Qualität des Handwerks und Grundpfeiler der Kundenphilosophie ihres Geschäfts. Und diese zahlt sich aus, denn die Umtauschrate liegt bei 0-0,3%. Bei richtiger Pflege – also bei richtiger Lagerung und einer geeigneten Seife, sollte man die Bürste einmal waschen wollen – halten die mühevoll angefertigten Bürsten teilweise ein ganzes Leben lang. 

All das Wissen über die verschiedenen Materialien, die Anfertigung und die Pflege der Bürsten, seien seit 1894, als sich das Geschäft noch in der Hand ihres Großvaters befand, von Generation zu Generation überliefert worden. Caroline Jäger erinnert sich gerne an die alten Zeiten zurück, in denen sie als kleines Kind bei der Arbeit ihres Vaters zusehen und helfende Hand anlegen durfte. „Der Laden war mein Zuhause. Hier verbrachte ich meine Zeit“, sagt sie. Wenn man mit dem Handwerk aufwachse, dann seien gewisse Abläufe und gewisse Kenntnisse irgendwann selbstverständlich. Aufgeschrieben haben sie und ihre Mutter jedoch nie etwas. Alles befände sich im Kopf. Nach gewisser Zeit säßen die Handgriffe eben. Ziegenhaar, Rosshaar, Pflanzenfaser… die Haare kommen von Zulieferern weltweit. „Fühlen Sie mal“, lädt Caroline Jäger ihre Kunden ein, „das ist Ziegenhaar. Es ist besonders weich und eignet sich gut fürs Staubwischen.“ Rosshaar wiederum sei etwas widerstandsfähiger und daher besonders für Besen oder Schuhbürsten geeignet. Caroline Jäger und Waltraud Ernst reparieren die verkauften Bürsten auch oder konstruieren sie bei Bedarf des Kunden um. Es wird deutlich, dass das füllige Sortiment Zeuge vom Lauf der Zeit ist. Mit der Anschaffung immer modernerer Gegenstände zu Hause haben sich auch die Bedürfnisse der Kunden sowie die Art und Weise der Instandhaltung über die Jahre hinweg verändert. Die große Auswahl an Bürsten in allen Größen und Formen unterstreicht die Dynamik des Handwerks, seine große Flexibilität sowie seine jahrzehntelange Perfektionierung.

Im hinteren Teil des Geschäfts befindet sich die Werkstatt, in der Waltraud Ernst bereits seit über 50 Jahren jeden Tag mit schnellen, geübten Handgriffen neue Bürsten von Hand anfertigt. Die Dauer ihrer Herstellung variiere je nach Modell und Größe. Es könne eine halbe Stunde oder einen halben Tag in Anspruch nehmen, um eine neue Bürste anzufertigen. Die Herstellung durchläuft mehrere Prozesse: Zuerst wird die passende Menge Rosshaar (oder Ziegenhaar etc.) gebündelt und in einer Drahtschlinge durch den mit Löchern versehenen Bürstenkörper gezogen. Daraufhin wird der Draht am Bürstenkörper befestigt. Auf der Rückseite des Bürstenkörpers entsteht somit ein Muster, das wie eine Stoffnaht aussieht. Ist eine Reihe fertig, werden die Ziegenhaare mit einer antiken Bankschere glattgeschnitten. Dieser Prozess wiederholt sich Reihe für Reihe. Am Ende werden die Borsten noch mit einem Eisenkamm, den der Großvater bereits verwendete, durchgebürstet und von Überschuss, Knoten und Produktionsrückständen befreit. Nach den letzten Schönheitsmaßnahmen ist das Modell fertig zum Verkauf. Qualitativ hochwertige Materialien sind für die beiden Frauen sehr wichtig. Ihre traditionsreiche Handwerkskunst stellt in der heutigen Gesellschaft, in der die Dinge wenig kosten und wegen schlechten Materials schneller kaputtgehen oder weggeworfen werden, einen der letzten noch „lebenden“ Gegenentwürfe dar. Sie zählen deutschlandweit zu den drei oder vier Handwerksbetrieben, die sich dieser Kunst noch gänzlich widmen. Der Rest ist bereits durch die Konsequenzen der fortschreitenden Technisierung und dem Konsumverhalten der Gesellschaft vom Markt verdrängt worden.

Waltraud Ernst erinnert sich an die 70er Jahre zurück, in denen um die Existenz des Geschäfts und vor allem des Handwerks gebangt worden sei. Die Leute interessierten sich mehr für „buntere“ und „flippigere“ Sachen. Selbst Bürsten sollten mehr Farbe haben und weniger kosten, weshalb damals gefärbte und billigere Plastikmodelle sich größerer Beliebtheit erfreuten. Doch der Trend habe sich laut Caroline Jäger in den letzten Jahren wieder gewandelt. Grund hierfür sei das stärkere Bewusstsein der Menschen für ökologisches und globales Denken. Man wird heutzutage mehr über die Folgen von Plastik aufgeklärt, und die Menschen tendieren langsam wieder zu weniger, aber dafür qualitativ hochwertigeren Besitztümern. Ähnlich verhält es sich mit der Beliebtheit von Bio-Lebensmitteln. Aus ökologischen Materialien hergestellt und zugleich effektiv sollen die Bürsten der Kunden heute sein. Lange halten bestenfalls auch. Carolines Großvater, erzählt sie, machte bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf die Gefahren oder Risiken der Industrialisierung für die kleinen Handwerksbetriebe aufmerksam. Er fürchtete die Macht der maschinellen Produktion und war besorgt, irgendwann sein Handwerk an eine Maschine zu verlieren. Begründete Ängste, wie sich für viele Handwerksbetriebe dieser Art herausstellen sollte. Wer jedoch Waltraud Ernst bei der Arbeit beobachtet und ganz nah miterlebt, wie viel Mühe hinter der Anfertigung einer einzelnen Bürste steckt, dem wird schnell klar: Keine Maschine könnte auf alle individuellen Wünsche der Kunden eingehen. Keine Maschine fertigt Unikate an. Keine Maschine repariert eine beschädigte Bürste. Und natürlich schwingt auch noch etwas Sentimentales mit: Im Gegensatz zu einer billigen Plastikbürste, die man sowieso nicht wertschätzt, ist es schlichtweg ein anderes Gefühl, eine handgemachte Bürste mit echtem Tierhaar in der Hand zu halten. Trotzdem ist es für die beiden Frauen wichtig, mit der Zeit zu gehen und Altes und Neues konstruktiv zu verbinden. „Wir lehnen die Moderne nicht ab“, erläutert Caroline, „sondern versuchen, Hand in Hand mit ihr zu gehen. Tradition und Moderne sozusagen zu vereinen“. Aus diesem Grund gibt es einige wenige zugekaufte Bürsten aus Kunstfaser oder Plastik, für die heutzutage einfach eher weniger Geld ausgegeben wird. Die Industrie wird von ihnen nicht als Konkurrent gesehen, sondern als Partner, von dem man einiges übernimmt, dem aber auch Wertvolles hinzugefügt wird. Gerade traditionelle Handwerksberufe, die Gefahr laufen, von modernen Produktionsabläufen verschlungen zu werden, können die Technisierung nicht einfach ignorieren.

Der Betrieb befindet sich mittlerweile seit vier Generationen in den Händen der Familie Ernst. Für Caroline Jäger war damals klar, dass sie den Betrieb irgendwann übernehmen würde. Sie sei sozusagen „hineingewachsen“ und habe immer großen Spaß an der Arbeit im Handwerk oder an den ersten Erfahrungen als Kundenberaterin gehabt, die sie bereits mit 11 Jahren zum Argwohn der damaligen Kunden machen konnte. Um alle Feinheiten und Details des Handwerks verstehen und umsetzen zu können, liegt es nahe, dass man damit großwerden muss. Fast unmöglich scheint es für einen Laien, all die Unterschiede zwischen den verschiedenen Materialien kennen und verstehen zu können. Umso bedeutender ist es für das kulturelle Erbe einer Stadt und eines Landes, dass so traditionsreiche Betriebe wie der „Bürsten Ernst“, hinter dessen Namen sich Wissen von unschätzbarem Wert verbirgt, lange erhalten bleiben. Noch nach so vielen Jahren kann man beobachten, wie viel Freude das Handwerk und die Erinnerungen an die alten Zeiten bei den Frauen auslösen. Stolz erzählt Caroline Jäger von dem großen Talent und der Tüftlerfreude ihres Vaters. Er habe viel Zeit damit verbracht, in der Werkstatt an neuen Erfindungen zu arbeiten. Sie selbst durfte dabei oft mit ganzem Körpereinsatz helfen. In den 50er Jahren, erzählt sie, sei er maßgeblich an der Entwicklung einer Halterung – eines sogenannten „Andrückers“ – für eine Glasflaschen-Etikettiermaschine der Firma Krones beteiligt gewesen. Zudem habe er eine Art „Schlitten“ erfunden, mit dessen Hilfe ein Ofenrohrwischer für das Reinigen der Rohre von alten Ölöfen hergestellt wurde.

Es scheint, als sei das Handwerk der Familie in die Wiege gelegt worden. Dieses Gefühl verstärkt sich, sobald man sich die Anekdoten aus der Vergangenheit anhört oder die Fülle des Angebots auf sich wirken lässt. Viele verschiedene Modelle und Exemplare, doch keine einzige Bürste gleicht einer anderen – keine Bürstenkörper sind identisch. Wer hier einkauft, kann sichergehen, dann er etwas besitzt, dass es so kein zweites Mal gibt. Und genau das macht neben der Begeisterung, Versiertheit und charismatischen Art der Geschäftsführerinnen den Besuch in dem Geschäft zu einem wahren Erlebnis. Man lernt nicht nur etwas Nützliches und Interessantes für sich dazu, sondern wird daran erinnert, dass hinter allem, was unsere Großeltern verwendet haben, und vielleicht auch hinter einigen wenigen handgefertigten Dingen, die man selbst besitzt, eine Idee steckt, aus welcher der Gegenstand geboren wurde. Man wird daran erinnert, dass das, was wir in der Hand halten, von einem Menschen, der sein Handwerk schätzt, mühevoll und mit großer Geduld angefertigt wurde. Dieses Bewusstsein um die Biographie der Gegenstände, die wir gebrauchen, bringt uns dazu, sie mehr wertzuschätzen. Und das gilt für vieles im Leben: Durch Wertschätzung und stete Pflege hält erstaunlich Vieles ein Leben lang.

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