Was würden Sie machen, wenn Sie nach einer einunddreißigstündigen Anreise, dicht gedrängt mit fremden Mitreisenden zusammensitzend, endlich in Regensburg ankommen? Vermutlich sofort ins Hotel gehen, das „Nicht stören“ – Schild raushängen, duschen und eine Runde schlafen. Goethe machte es anders: Er ging gleich nach der Ankunft in Regensburg auf Sightseeing.
Im September 1786 reiste Johann Wolfgang von Goethe bekanntlich nach Italien. Er erfüllte sich einen langgehegten Wunsch und wollte Abstand von den zahlreichen Verpflichtungen in Weimar nehmen, die ihn vom Schreiben abhielten.
Außerdem folgte er einem im Bildungsbürgertum und Adel verbreiteten Trend: Man begab sich nach Italien, der Wiege der europäischen Kultur, und konnte gleichzeitig seine humanistische Bildung unter Beweis stellen. Griechenland ist zwar genauso eine „Wiege“, aber leider zu weit weg und weniger gut erschlossen.
Man brauchte nur die finanziellen Mittel für die Reise und etwas Zeit. Goethe hatte beides: Sein Ministergehalt in Weimar lief dank des großzügigen Freundes Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach weiter, und Zeit hatte er auch jede Menge. Erst im Juni 1788 sollte er zurückkehren.
Alles in allem: Beste Voraussetzungen für eine nette Bildungsreise auf Steuerkosten, die allerdings in der deutschsprachigen Literatur große Bedeutung erlangen sollte.
Die lange vorher geplante Abreise erfolgt am 3. September 1786 aus Karlsbad, wo Goethe gerade auf Kur weilte und einige Tage zuvor den 37. Geburtstag gefeiert hatte. Er hielt seine Absicht geheim, um nicht gestört oder sogar abgehalten zu werden. Nur sein Diener wusste Bescheid, hütete das Haus in Weimar und schickte regelmäßig Schecks nach Italien.
In dem in verschiedenen Teilen erst ab 1813 erschienenen Reisebericht „Italienische Reise“ heißt es daher auch: „Früh drei Uhr stahl ich mich aus Karlsbad, weil man mich sonst nicht fortgelassen hätte.“ Um unerkannt zu bleiben (er war ja durch den „Götz“ und den „Werther“ eine europäische Berühmtheit), wählte er den Namen Johann Philipp Möller als Pseudonym und gab sich als Maler aus.
Erste Station: Das weiße Lamm
Mit der Postkutsche und kleinstem Gepäck (der Rest wurde unterwegs gekauft) geht es über Eger, Waldsassen (das er positiv erwähnt) und Schwandorf nach Regensburg, wo er am Montag, den 4. September, um 10 Uhr, also nach 31 Stunden, ankommt.
Angenehm war so eine Postkutschenreise nicht: Die Straßen waren schlecht, immer wieder bestand die Gefahr von Achsbrüchen, es war holprig, man saß dicht an dicht mit fremden Mitreisenden, in den kurzen Pausen wegen Pferdewechsel gab es keine Gelegenheit, sich frisch zu machen, die Toiletten waren grauslich. Unterkünfte in den Poststationen waren ein weiteres unangenehmes Kapitel. Trotzdem wählte Goethe die Postkutsche, weil die Vorbereitungen mit einem privaten Fahrzeug sich nicht hätten verbergen lassen und die Reise preisgünstiger war.
Wo übernachtet man in Regensburg? Im Weißen Lamm natürlich! Dieses traditionsreiche Haus geht auf eine Bauhütte zur Zeit des Brückenbaus zurück und wurde wegen der Lage an der Schiffsanlegestelle im 18. Jahrhundert zu einer der besten und beliebtesten Unterkünfte in der Stadt, natürlich mit „Pferdegarage“. Auch Goethe quartiert sich hier ein. Das Gebäude existiert heute noch, ist aber kein Hotel mehr. Eine Gedenktafel weist auf den berühmten Besucher hin.

Ehemaliger Gasthof „Weißes Lamm“. © Wolfgang Ludwig
Sightseeing statt schlafen
Wer aber glaubt, Goethe hätte sich nach der langen Kutschenfahrt einfach mal hingelegt, der irrt. Zunächst äußert sich der berühmte Besucher in seinem Reisebericht distanziert wohlwollend über die Stadt: „Regensburg liegt gar schön. Die Gegend musste eine Stadt herlocken. (...) Die Donau erinnert mich an den alten Main. Bei Frankfurt haben Fluss und Brücke ein besseres Ansehen.“
Nach der Ankunft im Weißen Lamm „verfügt“ er sich „gleich“ (also ohne Ausruhen) ins Jesuitenkollegium St. Paul, um dort das von Schülern aufgeführte „Ende einer Oper und den Anfang eines Trauerspiels“ zu erleben. Goethes zurückhaltender Kommentar: „Sie machten es nicht schlimmer als eine angehende Liebhabertruppe.“ Immerhin beeindruckt die Ausstattung. Wohlwollender äußert er sich über Aktivitäten der Jesuiten im kulturellen Bereich.
Der 4. September, den Goethe in Regensburg verbringt, war ein „herrlich gelinder Tag“ mit milder Luft. Der ganze Sommer hingegen, so hört er die Regensburger schimpfen, wäre nass und kühl gewesen.

Zeichnung einer Flusslandschaft von Goethe, wahrscheinlich Donau und Wöhrd. Februar 1787. © Freies Dt. Hochstift / Frankfurter-Goethe-Museum. Mit frdl. Genehmigung)
Goethe flaniert über Märkte und stellt fest, „das Obst ist nicht sonderlich. Gute Birnen hab´ ich gespeist; aber ich sehne mich nach Trauben und Feigen.“ Der Körper ist in Regensburg, der Geist schon in Italien!
In Regensburg besucht Goethe, der sich auch für Gesteinskunde interessiert, das Naturalienkabinett des Jakob Christian Schäffer, Superintendent von Regensburg, in der Pfarrergasse 5. Zu gerne hätte er ein schönes, mit Quarz durchzogenes Gesteinsstück mitgenommen, aber „ich habe geschworen, mich auf dieser Reise nicht mit Steinen zu schleppen.“ Eine Gedenktafel am Haus erinnert an den prominenten Besuch.
In der Buchhandlung erkannt
Auch eine Buchhandlung durfte auf der Besichtigungstour nicht fehlen. Fast hätte der Besuch in der Buchhandlung des Johann Leopold Montag im Erdgeschoss des Alten Rathauses unerwünschte Folgen gehabt, da er von einem Buchhändler, der früher in Weimar tätig war, erkannt wird. Goethe leugnet („Ich habe es ihm aber gerade ins Gesicht geleugnet, daß ich´s sei“) und macht sich schnell aus dem Staub. Der Verkäufer behält seine Erkenntnis für sich und gibt keine Sensationsmeldung nach Weimar weiter, wo man lange keine Ahnung hatte, wo Goethe eigentlich steckte.
Am Dienstag, den 5. September 1786, gegen ein Uhr Mittag, reist Goethe von Regensburg ab – Richtung Süden über Innsbruck und den Brenner.
Was er am Vormittag dieses Tages gemacht hat, steht nicht in seinem Reisebericht. Ob er sich wohl einfach ausgeruht hat? Dom, Steinerne Brücke oder die Türme, Pflichtpunkte für alle Besucher der Stadt, erwähnt er mit keinem Wort. Goethe hatte wirklich anderes im Sinn.
Hauptstadt der Welt
Bis zum Ziel seiner Sehnsucht sollte es noch eine Weile dauern. Über Verona, Venedig und einige andere Orte reist Goethe jeweils mit ein paar Tagen Aufenthalt weiter. Fast zwei Monate nach seiner Abreise aus Regensburg erreicht er Rom am 29. Oktober 1786 und notiert am 1. November: „Ja, ich bin endlich in dieser Hauptstadt der Welt angelangt!“
Nun kehrt innere Ruhe ein. Nach einigen Tagen in einem Albergo bezieht er Quartier in einer deutschen Künstlerkolonie an der heutigen Via del Corso 18. Das Gebäude besteht heute noch und beherbergt das deutsche Museum Casa di Goethe, in dem die berühmte Reise thematisiert wird. In der Casa lebten schon länger zahlreiche bekannte Künstler wie Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Johann Heinrich Lips und andere, die sich in Rom Inspiration erhofften.
Nach vier Monaten Rom geht es zusammen mit Tischbein nach Neapel und mit dem Maler Kniep nach Sizilien, im Juni 1787 kehrt Goethe nach Rom zurück, wo er bis Ostern 1788 bleibt und den „Egmont“ fertig stellt.
Die Rückreise erfolgt über Mailand und die Schweiz. Nach Regensburg kam Goethe nie mehr.
Doch einmal beschäftigte sich Goethe noch mit Regensburg: Im Februar 1787 fertigte er in Rom eine Federskizze einer Flusslandschaft an, von der heute angenommen wird, dass sie die Donau und den Wöhrd darstellt.
Seccatur und Prellerey
Goethe hat den Reisebericht „Italienische Reise“ mehrmals überarbeitet, das Italienbild teilweise idealisiert, allgemeine Betrachtungen und Briefe eingefügt, aber erst ab 1813 in mehreren Teilen publiziert und fand damit breites Interesse in der Öffentlichkeit. Viele Nachahmer reisten mit Goethes Buch in der Hand nach Italien, einige (z. B. der junge Felix Mendelssohn Bartholdy) versuchten sogar, einzelne Orte an denselben Tagen wie Goethe zu betreten.

Eine der berühmtesten Darstellungen: Goethe in lässiger Position am Fenster seines Zimmers am Corso, gemalt von Tischbein um 1786/87. © Freies Dr. Hochstift, Frakfurt, Mit frdl. Genehmigung
Als Rom 1870 an das internationale Bahnnetz angeschlossen wurde, begann ein regelrechter Pilger- und Touristenansturm auf die ewige Stadt, an dem Goethe zumindest einen kleinen Anteil hatte. Rom war auf die Besuchermassen in keiner Weise vorbereitet. Es gab zu wenige gute und zu viele schlechte Quartiere und wenige Kutschen, die Preise stiegen extrem an und verärgerten die Reisenden.
Nächtigungen wurden nicht nach nachvollziehbaren Tarifen berechnet: Der Wirt schaute den Gast an und nannte einen Preis, der dann oft am nächsten Morgen noch höher war. Diskussionen waren mangels Alternativen zwecklos. In einem Brief an Carl August in Weimar nannte bereits Goethe diese Umstände eine „Seccatur und Prellerey in Italien“.

Casa di Goethe an der Via del Corso, Rom: Hier wohnte Goethe im 1. Stock. © Wolfgang Ludwig
Auch heute werden noch Themenfahrten zur „Italienischen Reise“ angeboten, einige nehmen ihren Ausgang in Regens¬burg und enden in der Casa di Goethe am Corso in Rom. Es gibt sogar Fanatiker, die es als ihre Lebensaufgabe sehen, Goethes Reiseroute in jahrelanger Kleinarbeit nachzuvollziehen, ähnlich wie Pilgerreisen auf dem Jakobsweg. (Zitate nach „Italienische Reise“, Hamburger Ausgabe)
Wolfgang Ludwig I filterMagazin