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Die katholische Kirche hat auch in Regensburg mit Missbrauchsvorwürfen, überkommener Sexualmoral oder Mitgliederschwund zu kämpfen. Alle Punkte zeugen von einer Gemeinschaft, die einer Doppelmoral anheim zu fallen droht.

Allein wenn man den amerikanischen Pianisten Leon Fleisher am Klavier sitzen sieht, wie er mit einer Stille und Segenhaftigkeit Johann Sebastian Bachs Arie „Schafe können sicher weiden“ aus dessen Kantate BWV 208 zum Besten gibt, kann man die Sicherheit der weidenden Tiere spüren – leichtfüßig tänzelnd, über grüne Wiesen hinweg. Wendet man sich der Partitur für Sopran, Flöten und Basso continuo zu, wird das Behütetsein durch die unbeschwerten, leisen Flötenklänge und dem Text noch verstärkt: „Schafe können sicher weiden / Wo ein guter Hirte wacht / Wo Regenten wohl regieren / Kann man Ruh‘ und Frieden spüren / Und was Länder glücklich macht.“ Egal ob als reine Klavierinterpretation oder mit Gesang – Bachs Arie verzaubert mit ihrer zarten, eingängigen Melodie, die als Lobgesang auf den gut wachenden Hirten das Bild eines Regenten hervorbringt, der mit seiner Macht verantwortungsvoll und zum Wohle all seiner Schafe umzugehen weiß – ganz gemäß der Übersetzung des Psalms 23 aus der Heiligen Schrift nach Martin Luther: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.“ Dieses Bild, das die Bibel und die Arie suggerieren, hat in der Realität des 21. Jahrhunderts allerdings nur noch begrenzt Bestand.

Deutlich wird dies an den Problemen der katholischen Kirche, die auch vor dem Bistum Regensburg nicht Halt machen. Missbrauchsvorwürfe, Diskriminierung, überkommene Sexualmoral oder Mitgliederschwund – alle Punkte zeugen auch in der Welterbestadt von einer Gemeinschaft, die in Extremen gespalten einer Doppelmoral anheim zu fallen droht, um ein Regiment aufrechtzuerhalten, in dem die eigenen Schafe nur mehr mit Sicherheitseinbußen weiden können. Entgegengesetzt zur biblisch friedlichen Stimmung und der auf Liebe aufbauenden Intention.      

Rund 4.500 Gläubige pilgerten Anfang Juni bei der größten Fußwallfahrt von Regensburg aus 111 Kilometer nach Altötting und wieder zurück, im Januar machten sich rund 150.000 Menschen auf den Weg nach Panama, um den sechstägigen katholischen Weltjugendtag zu feiern, im Mai nahmen Tausende Kinder und Jugendliche in ganz Deutschland an der 72-Stunden-Aktion des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) teil, bei der engagierte Menschen drei Tage lang mit sozialen Projekten für eine bessere Welt eintreten. Dies sind nur drei Großereignisse, die bislang im – katholischen – Kirchenjahr 2019 passiert sind. Hinzu kommen Papstreisen, bei denen sich der Pontifex umringt von strahlenden Gesichtern durch die Menge bewegt, unzählige Gottesdienste und zig kleinere Veranstaltungen der katholischen Kirche, deren Puzzlesteine sich zu einem Mosaik zusammenfügen, das der Welt bunt schillernd eine Gemeinschaft präsentiert, die von Glaube, Hoffnung und Liebe getragen wird. Das Bistum Regensburg konkludiert auf seiner Website die „Mitte des christlichen Glaubens“ auf die Liebe, preist die Kirche als „universale Gemeinschaft, die die Menschen verbindet über alle Grenzen von Zeit und Raum hinweg“, und bietet seine Dienste und Hilfe für nahezu alle Lebensbereiche an – egal ob Seelsorge, Missbrauch, Schwangerschaft, Ehe, Schule oder Bildung. Und das nicht nur für ältere Menschen.

Die Diözese richtet sich gerade auch mit ihrer Website zum Magazin Grandios gezielt an Jugendliche und junge Erwachsene und bietet damit einen farbenfrohen, weltoffenen und dem Alter entsprechenden Gegenpol. Kurzum: Im Internet scheinen Tradition und Moderne Hand in Hand zu gehen. Durch die Transparenz – etwa in Form der offengelegten Einnahmen – wird außerdem eine Haltung aufgebaut, die eine Unerschütterlichkeit mimt. Das Bistum Regensburg hat jedoch wie alle anderen Bistümer in Deutschland und die katholische Kirche im Allgemeinen mit einer Doppelmoral zu kämpfen, die beim Blick hinter die Kulissen evident wird und sich schon lange nicht mehr hinter dicken Kirchenmauern verstecken kann. Denn der Putz bröckelt.

Wenn das Individuum nichts mehr zählt

Wie groß die Diskrepanz zwischen katholischer Tradition und Moderne ist, zeigen aktuell die Missbrauchsfälle bei den Domspatzen. Vor zwei Jahren stellte der Rechtsanwalt Ulrich Weber seinen Abschlussbericht zu den Missbrauchsfällen beim weltberühmten Chor vor. Beauftragt hatte ihn das Bistum selbst, um Lichts ins Dunkel der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in den Jahren 1945 bis 1995 zu bringen. Am 22. Juli dieses Jahres wurde dann noch die sogenannte „Regensburger Aufarbeitungsstudie“ vorgestellt, die in einen geschichts- und einen sozialwissenschaftlichen Bereich unterteilt war und von der Universität Regensburg sowie von der Kriminologischen Zentralstelle Wiesbaden durchgeführt wurde. Und nicht zuletzt gab es Anerkennungszahlungen an Betroffene. Nach Angaben von Bischof Rudolf Voderholzer wurden insgesamt 3,785 Millionen Euro ausbezahlt. Aus diesen vier Säulen also setzte sich das Modell des Bistums zur Aufklärung und Aufarbeitung rund um den Skandal bei den Domspatzen zusammen. Doch selbst wenn für Opfer und Täter Maßnahmen ergriffen wurden und sich Voderholzer auf der Pressekonferenz wiederholt für die Vorfälle entschuldigt und davon spricht, „für künftige Generationen daraus zu lernen“, können diese Worte dennoch nicht über die niederschmetternden Ergebnisse hinwegtäuschen.

Für die Jahre 1945 bis 1995 stuft Weber nach Gesprächen mit Betroffenen in seinem Bericht 547 Opfer als „hoch plausibel“ ein. 500 waren Opfer körperlicher Gewalt, 67 von ihnen wurden sexuell misshandelt. Auf Täterseite, bestehend aus Geistlichen, Schul- und Musiklehrern aber auch Nonnen, identifiziert er für die Vorschule und das Musikgymnasium 49 Personen – 45 übten körperlich Gewalt aus, neun sexuell. Ohne die Fakten verallgemeinern zu wollen – zeugte doch gemäß der historischen Analyse die Normalität für viele Schüler von einem „nicht von Gewalt dominierten Alltag“ – dürfen die Ursachen für das Fehlverhalten dennoch nicht verschwiegen werden. Denn sowohl der Weber-Bericht als auch die „Regensburger Aufarbeitungsstudie“ kommen zu den gleichen Schlüssen: Finanzierung und Erfolg des Chors waren wichtiger als das Wohlergehen der Schüler oder eine kindgerechte Pädagogik.

Begünstigt wurde der Missbrauch durch die internen undurchsichtigen Strukturen mit unklarer Verantwortungsverteilung. Wie aus der historischen Studie hervorgeht, baute die kalte und angstbesetzte Atmosphäre auf „militärischen Drill“ sowie auf „Überwachung und ‚obsessiven‘ Ordnungssinn“ auf. Der traditionsverhaftete und von Desinteresse zeugende Erziehungsstil zeigte sich in Form von „Prügelorgien“, wie etwa in Etterzhausen bei Pielenhofen durch Johann Meier, Leiter der dortigen Domspatzenvorschule. Die Studie schreibt ihm aufgrund seiner Gewalttätigkeiten eine „persönliche Deformation“ zu, „die nur als Sadismus und Allmachtsphantasien zu kennzeichnen sind“. Weiterhin wurden die Schüler mit „sexualisierter Gewalt“, „mit der systematischen Erzeugung von Angst durch permanente Strafandrohung oder Demütigung“ erzogen. Dies hatte einerseits „schwere traumatisierende“ Auswirkungen für die Opfer und sprengte andererseits, wie die Studienleiter betonen, „die seinerzeit gesellschaftlich akzeptierten Vorstellungen von Strafe“. Dass Georg Ratzinger, Domkapellmeister und Bruder von Josef Ratzinger alias Papst Benedikt, nichts von den Prügelorgien Meiers wusste, ist der Studie zufolge übrigens „ausgeschlossen“, auch wenn er selbst trotz „harter Körperstrafen und psychischer Demütigungen“ während der Chorproben als „persönlich wohlwollend und väterlich“ beschrieben wurde.      

Am 11. April 2019 sah sich nun dessen Bruder, der emeritierte Papst Benedikt, dazu veranlasst, sich zu den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche zu äußern. Schließlich habe er „zum Zeitpunkt des öffentlichen Ausbruchs der Krise und während ihres Anwachsens an verantwortlicher Stelle als Hirte in der Kirche gewirkt“. Er habe sich deswegen gefragt, was er „aus der Rückschau heraus zu einem neuen Aufbruch beitragen könne“. Mit Verlaub, nicht viel. Vor allem eine Aussage erhitzte dabei die Gemüter. Laut Josef Ratzinger gehörte nämlich „zu der Physiognomie der 68er Revolution[…], daß (sic!) nun auch Pädophilie als erlaubt und als angemessen diagnostiziert wurde“. Das ist schlicht falsch und entbehrt jeglicher Grundlage. Punkt. Er mag mit der 68er-Bewegung und ihren Forderungen auch in sexueller Hinsicht nicht übereinstimmen, doch erlaubt war Pädophilie gewiss nicht. Auch tragen die 68er keine Schuld am Vergehen klerikaler Menschen an Schutzbefohlenen, was auch in der geschichtswissenschaftlichen Studie klargestellt wird: „Die Gewalt bei den Domspatzen war mehrheitlich nicht etwa Folge der reformorientierten ‚68er-Pädagogik‘, sondern Teil eines Erziehungsalltags, der weit vor 1968 etabliert worden war und von Neuerungen lange Zeit gerade nicht oder kaum berührt wurde.“ Vielleicht wäre Papst Benedikt besser beraten gewesen, die Aufklärung und Aufarbeitung der Missbrauchsskandale selbst anzustoßen. Der breiten Öffentlichkeit bekannt wurden sie – auch jene bei den Domspatzen – nämlich schon im Jahr 2010, Ratzingers Rücktritt folgte erst 2013. Anstatt nun in der Zukunft die Schuldigen der Vergangenheit zu eruieren, hätte er in der damaligen Gegenwart auch vor der eigenen Haustüre kehren sollen. Doch das hätte Hinterfragung, Reflexion und Kritikfähigkeit vorausgesetzt. Und diese Komponenten zählen nicht unbedingt zu den Stärken der System-Oberen, was auch der Umgang mit der kirchlichen Sexualmoral belegt.
 
Hoch lebe das klerikale System

Anstoß zum Umdenken in diesem Bereich lieferte jüngst die MHG-Studie, eine Forschungsanalyse der Universitäten Mannheim, Heidelberg und Gießen, die deutschlandweit die Häufigkeit des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Diözesanpriester, Diakone und Ordenspriester zwischen 1946 und 2014 ermitteln und erklären sollte. Vorgestellt wurden die Forschungsergebnisse Ende September 2018 mit schockierenden Resultaten: Bei 1.670 Klerikern der katholischen Kirche fanden sich im genannten Zeitraum Hinweise auf Beschuldigungen des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen. Die Dunkelziffer liegt nach Einschätzung der Studienmacher noch höher. Betroffen von den Vergehen waren insgesamt 3.677 Minderjährige, vornehmlich Jungen, von denen mehr als die Hälfte maximal 13 Jahre alt waren. In lediglich 37,7 Prozent der Fälle wurde Strafanzeige erstattet, 60,8 Prozent verliefen hingegen strafanzeigenfrei. Kirchenrechtliche Verfahren gab es bei etwa ein Viertel der Fälle. „Aus kirchlicher Sicht drastische oder irreversible Sanktionen wie Entlassung aus dem Priesterstand oder Exkommunikation waren in geringer Zahl verzeichnet“, lautet das Fazit der Forscher zu den Sanktionsmaßnahmen. Die Mehrzahl der Schuldigen wurde schlicht versetzt.  

Das Täterprofil verrät dabei, dass es sich vor allem um Priester, die nach dem Zölibat leben müssen, handelte, und nicht um Diakone, bei denen das Keuschheitsgelübde nicht greift. Auch wenn aus der Studie hervorgeht, dass „die Verpflichtung zum Zölibat sicherlich keine alleinige Erklärung für sexuelle Missbrauchshandlungen an Minderjährigen sein kann“, so stellt es für die Forscher zumindest einen Risikofaktor dar: Deshalb legen sie es auch nahe, sich mit dem Thema Zölibat auseinanderzusetzen – ebenso wie mit dem Thema Homosexualität. Denn laut MHG-Studie könnte gerade Priesteramtskandidaten „mit einer unreifen und abgewehrten homosexuellen Neigung“ das Leben im Zölibat als „Lösung innerpsychischer Probleme“ vorkommen. Daraus ergibt sich jedoch ein Teufelskreis. Denn durch die Ablehnung von Homosexualität durch den Klerus müsse laut Studie die eigene sexuelle Orientierung versteckt ausgelebt werden – mit möglicherweise fatalen Folgen: „Das komplexe Zusammenspiel von sexueller Unreife, abgewehrten und verleugneten sowie die zum Zeitpunkt der Berufswahl möglicherweise latenten homosexuellen Neigungen in einer ambivalenten, teilweise auch offen homophoben Umgebung könnte also eine weitere Erklärung für das Überwiegen männlicher Betroffener beim sexuellen Missbrauch durch katholische Kleriker bieten. Allerdings sind weder Homosexualität noch Zölibat eo ipso Ursachen für sexuellen Missbrauch von Minderjährigen.“

Die Studie rüttelt darüber hinaus an den Mauern des Klerikalismus, der in den Augen der Forscher eine wichtige Ursache sowie ein signifikantes Merkmal kirchlicher, starrer Strukturen sei. Die vorgegebene Hierarchie und Autorität innerhalb des Systems könne dabei gerade aufseiten der Priester ein Dominanzverhalten hervorrufen, wobei sexueller Missbrauch ein „extremer Auswuchs“ davon sei. Ein solcher Priester könne – innerhalb der katholischen Kirche – jedoch eher als Gefährdung für das klerikale System angesehen werden und nicht etwa als Bedrohung für Schutzbefohlene. Die Folge: Vertuschung und Schweigen zugunsten des Systemerhalts werden priorisiert, Offenlegung dafür hintangestellt.

Dieses Verhalten zeigt sich auf Nachfrage auch beim Bistum, dessen „einschlägigen Fachleute“ derzeit im Urlaub verweilen würden, weshalb man keine Auskunft etwa zum Thema Missbrauch geben könne. Glücklicherweise haben sich Bischof Voderholzer und Co. bereits im Vorfeld zu diesem Thema geäußert. Das Bedauern und Aufarbeiten der Fälle ist anerkennenswert. Und Voderholzer mag Recht damit haben, wenn er wie zum Wolfgangsfest am 31. Oktober 2018 predigt, dass sich die katholische Kirche als „erste und einzige Institution der Zivilgesellschaft in Deutschland“ so umfangreich diesem Problem stelle. Nur einen Atemzug später lenkt er jedoch den Blick auf die anderen „Bereiche der Gesellschaft“ und stellt die Frage, ob deren Opfer weniger wert oder weniger bedeutsam seien. Das sind sie keineswegs. Allerdings werden in kaum einem anderen Bereich die Werte von Liebe, Vertrauen, Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit so stark postuliert wie in der Kirche. Und kaum eine andere Institution schreibt sich die Lebensweise nach diesen Normen so sehr auf die Fahne wie die katholische Kirche, weshalb Vertrauensverlust und gesellschaftlicher Aufschrei doppelt schwer ausfallen und wiegen. Die Schuld bei den anderen zu suchen, um kein Eingeständnis über die Fehlbarkeit der eigenen Institution abgeben zu müssen, verschärft jedoch nur die Problematik und Wut der Kritiker. Gerade wenn diesen noch vorgeworfen wird, sie würden einen „Missbrauch des Missbrauchs“, wie Voderholzer es in seiner Predigt nennt, heraufbeschwören, um „lange ersehnte kirchenpolitische Ziele zu verfolgen“ – so wie das Zölibat und die Stellung zur Homosexualität. Die Schlussfolgerungen der MHG-Studie zu diesen Themen mögen, wie Voderlorzer erwähnt, Kritikpunkte enthalten. Auch das Auslassen von Ordensgemeinschaften und die Auswahl von lediglich zehn Bistümern im Rahmen der Analyse zeigen der Studie ihre Grenzen auf, was allerdings nur einmal mehr die Bedeutung der Aufarbeitung für die Kirche unterstreicht. Über einen signifikanten Punkt können allerdings weder Kritik noch Schwächen der Studie hinwegtäuschen, denn sie stellt – wie auch die Untersuchung zu den Regensburger Domspatzen – das überholte System an den Pranger. Zu Recht. Schließlich beherbergt das autoritäre System Gefahren des Machtmissbrauchs.

Keine Macht der Modernisierung


Im Gegensatz zu einem demokratischen Rechtsstaat herrscht in der Kirche nämlich nicht das Prinzip der Gewaltenteilung, sondern der Gewaltanhäufung wie es Daniel Bogner, Professor für Allgemeine Moraltheologie und Ethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Fribourg, treffend formuliert: „Anstelle von drei Gewalten, die sich gegenseitig begrenzen und kontrollieren, gibt es in der Kirche nur eine einzige Gewalt, personifiziert im Bischofsamt. Die lateinische Sprache kennt dafür den Fachbegriff Monarchie. Das heißt übersetzt Herrschaft, die in einer Person gebündelt ist – Alleinherrschaft“, so Bogner weiter. In Regensburg wird diese Alleinherrschaft auch gerne mal mit Halbwahrheiten zu untermauern versucht, vor allem wenn es um das sensible Thema Mitgliederschwund geht, mit dem sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche seit Jahren zu kämpfen haben. 2018 sind im Bistum Regensburg 8.321 Personen aus der Kirche ausgetreten, 2017 waren es 6.499. Bayernweit waren es 64.257, in der gesamten Bundesrepublik 216.078, rund 168.000 waren es 2017. Deutschlandweit verzeichnet die katholische Kirche damit einen Anstieg der Austritte von 29 Prozent innerhalb eines Jahres. Die evangelische Kirche verzeichnete 2018 bayernweit einen Rückgang von 27.673, deutschlandweit lag die Zahl bei 220.000 und damit leicht höher als im Vergleich zum Jahr 2017 mit rund 200.000 Austritten.

Voderholzer äußert sich 2017 auf der Website des Bistums zu den Austrittszahlen und wehrt sich gegen eine Modernisierung im Hinblick auf Zölibat, Frauenpriestertum oder Ehe mit der Tatsache, dass aus der evangelischen Kirche mehr austreten würden als aus der katholischen, obgleich diese in diesen Punkten viel liberaler sei. Darüber würde jedoch in der Öffentlichkeit „sehr vornehm geschwiegen“, stellt Voderholzer fest und liefert auch gleich eine mögliche Begründung für das Schweigen mit: „Wird darüber vielleicht auch deshalb geschwiegen, weil andernfalls die eklatante Schwäche, ja die Widersprüchlichkeit und Widersinnigkeit der ‚guten‘ Ratschläge an die katholische Kirche offenkundig würde?! Kann man uns denn allen Ernstes den Weg der evangelischen Kirche als Heilmittel empfehlen, der so offenkundig zu einer noch größeren Entfremdung von Glaube und Kirche geführt hat?“  

Was der Bischof hier „sehr vornehm“ verschweigt, in der breiten Öffentlichkeit jedoch längst angekommen ist, ist die Kenntnis über den demografische Wandel, der sich neben den Austritten nun mal auch hinter den Zahlen versteckt, denn es werden mehr Menschen beerdigt als Kinder getauft. Bei den Protestanten verstarben im vergangenen Jahr rund 340.000 Mitglieder, bei den Katholiken gab es 243.705 Bestattungen. Hinzu kommt, dass sich unter den Zuwanderern mehr Katholiken als Protestanten befinden und die Mitglieder der katholischen Kirche generell jünger sind als jene der evangelischen. Das Zusammenspiel aus Überalterung, Austritten und weniger Taufen wird die Mitgliederzahlen bei beiden Kirchen in Deutschland auch weiterhin schrumpfen lassen. Bis zum Jahr 2060 soll sie sich fast halbieren, das prognostiziert das Forschungszentrum Generationenverträge (FZG) der Universität Freiburg in seiner Studie. Der Anteil der Kirchenmitglieder soll demnach von derzeit 54 Prozent auf 29 Prozent sinken. Bei den Gründen für einen Ausstieg wird auf der Website des Bistums unter der Rubrik „Kirchenaustritt“ auch die „Kirchensteuer“ als Erklärung genannt. Dies steht jedoch konträr zu einer Studie des Bistums Essen, in der den Motiven erstmals ausführlich nachgegangen wird. Das Fazit: Entfremdung und fehlende Bindung sind die häufigsten Gründe. Im Gespräch mit dem Bistums-Magazin BENE erklärt der Siegener Religionspädagoge Ulrich Riegel, dass die Ausgetretenen die Kirche als Institution erleben würden, die „aus Machtinteressen und Ränkespielen besteht“. Kirchensteuer, Skandale oder persönliche Enttäuschungen seien zwar häufig der Anlass für Austritte, dahinter würden sich jedoch tiefer liegende Gründe verbergen.

Aufseiten des Bistumsobersten in Regensburg werden diese Details erneut „sehr vornehm“ verschwiegen – zugunsten des Systemerhalts. In seiner Predigt zur Messfeier am Hochfest Mariä Himmelfahrt in Rohr am 15. August 2019 geht er auf die Kirchenaustritte ein. Als viel „besorgniserregender“ als die steigende Zahl an Abgängen empfindet er jedoch die „rückläufige Praxis des sonntäglichen Gottesdienstes“ – für Voderlorzer der erste Schritt zum Kirchenaustritt. Und dabei gehe es doch gar nicht um den „Erhalt einer Institution, sondern um das ewige Leben“. Nach der Frage, wie der Glaube gestärkt werden könne, wehrt sich der Bischof einmal mehr gegen Veränderung, die nur darauf hinauslaufen würde, dass sich „die katholische Kirche ganz der evangelischen Kirche angleicht“. Dabei bezieht er sich auf Liberalisierung der Sexualmoral, Anerkennung homosexueller Partnerschaften, Synodalisierung der Kirchenleitung (im Sinne der ‚Demokratisierung‘) oder auf die Öffnung aller Ämter für Frauen. Was folgt, ist eine Suggestivfrage, die besagt, dass dies alles nicht zu einer Verlebendigung des kirchlichen Lebens und des Sonntags führen würde. Voderholzer schweift abermals zum vermeintlichen Gegner ab, entwirft propagandistisch gekonnt ein Feindbild, um selbst keine Lösungen für die eigenen Probleme liefern zu müssen. Er stellt abermals Vergleiche an und zieht floskelhaft Bibeltexte zur Begründung heran, die den Gläubigen den Übeltäter indirekt vor Augen führen sollen – die Modernisierung. Magnus Streit, Professor für Fundamentaltheologie und Philosophische Anthropologie an der Universität Freiburg, bringt am Beispiel des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche die Problematik dieser Borniertheit treffend auf den Punkt: „Systemstabilisierungswille und theologische Überzeugung dürften kaum sauber zu unterscheiden sein. Mit beidem jedoch hat man sich die Möglichkeit verstellt, sich selbst mithilfe humanwissenschaftlicher Theorien konsequent auch als Gefahrensystem über sich selbst aufzuklären. Bis heute lässt sich nachweisen, dass man dezidiert meint, Theologie treiben zu können, ohne sich auf diese Forschungsdiskurse eines modernen Universitätssystems einlassen zu müssen. Man formuliert ungehemmt Wahrheiten, weil man sich in der Wahrheit weiß. Und wird klar, dass die Wirklichkeit dem nicht entspricht, greift man zu theologischen Erklärungsvarianten, warum dem so ist, die aber schlicht grotesk sind.“

Revolution von unten?

Im Gegensatz zu Voderholzers Horrorvision geht es keineswegs darum, dass sich die katholische Kirche assimilieren soll. Die fortschreitende Entfremdung zwischen Mensch und katholischer Kirche lässt sich nur nicht durch sonntägliche Kirchenbesuche wettmachen, sondern nur durch ein deutliches Zeichen in Richtung Mensch und dessen Bedürfnisse. Eine Öffnung hin zu den Humanwissenschaften und ein paar Schritte raus aus den verstaubten Mauern der Gotteshäuser bedeuten dabei in keiner Weise eine Assimilation oder gar eine konturlose Verschmelzung mit der evangelischen Kirche. Die eigenen Strukturen zu lockern, um das bunte Mosaik aus Funk und Fernsehen grenzüberschreitend real werden zu lassen und um glaubwürdig für das einzutreten, was nicht nur auf der Seite des Bistums postuliert wird: Ein Leben in Liebe mit sich und den Mitmenschen, damit sich Geschichte nicht wiederholt und sich Mitglieder egal welcher Altersgruppe wieder sicher aufgehoben fühlen können.

Ob dieses moderne Szenario jemals als real gewordene Zukunftsmusik ertönen wird, bleibt allerdings fraglich. Und das liegt nicht zuletzt auch an den Anhängern der katholischen Kirche. Daniel Bogner beschreibt hierzu ein „eigenartiges Dilemma“: „Die biblisch bezeugte Botschaft […] ist von einer solchen Bedeutungstiefe und weckt eine Lebendigkeit, dass sie Menschen trotz widrigster institutioneller Umstände berührt und bewegt.“ Eine Revolution von unten hält Bogner folglich für unwahrscheinlich, da sich Gläubige kaum in der Lage sähen, sich ein Leben ohne den – wenn auch kritisierten – Rahmen der Kirche vorzustellen. In Bogners Dystopie sieht das „Scheitern der Kirche“ deshalb recht unspektakulär aus: „Die Kirche wird, so steht zu befürchten, wird nicht fulminant scheitern, sondern ganz trivial. Man rückt sie immer weiter an den Rand der Fensterbank, man weiß nicht wirklich, ob sie noch lebt; allein für die Entsorgung fehlt einem der Antrieb…“

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