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Sie wurden geprügelt, sexuell missbraucht und gedemütigt. „Ich bin in die Finsternis gekommen. Es war ein Gefängnis mit Schlägen, Tritten und noch viel Schlimmerem“, erzählt Karsten G. (Name von der Redaktion geändert) von seinen traumatischen Erinnerungen an die Regensburger Domspatzen.  Vor sechs Jahren wurden die ersten Missbrauchsfälle in dem berühmtesten Knabenchor Deutschlands bekannt, mittlerweile weiß man von mehr als 230 Fällen. Die Entschädigung? 2.500 Euro Schmerzensgeld, vielleicht - falls der Antrag vom Bistum nicht abgelehnt wird.

„Wenn die Erzieher, die sogenannten Präfekten, nachts ein Flüstern hörten, wurde man aus dem Bett geholt und in das Präfektenzimmer gebracht. Ich musste meinen Kopf zwischen seine Schenkel stecken. Bei jedem Schlag auf den Po rieb er sein Glied an meinem Hinterkopf.“ Karsten G. ist noch Jahrzehnte nach diesen Vorkommnissen schockiert, in seinen Augen stehen Tränen. „Es gab kein Entrinnen.“ Der 46-Jährige schwieg jahrelang, sprach mit niemandem darüber. Seit den 50er Jahren leben die Schüler in dem katholischen Internat der Regensburger Domspatzen, die Regeln waren streng. Erstmals 2010 brach der ehemalige Domspatz Alexander Probst das große Schweigen, er wollte eine Aufklärung und hoffte, damit endlich Frieden zu finden.

Nach ihm meldeten sich immer mehr Opfer und packten aus. Auch Karsten G. ist froh, den Schritt endlich gewagt zu haben. „Prügel gab es nicht nur nachts im Präfektenzimmer, auch im Unterricht, beim Mittagessen, bei dem man nichts sprechen durfte. Wir mussten auf die Empore treten und dann gab es eine Ohrfeige, so dass man alle fünf Finger sah. Und der Präfekt konnte das beidseitig. Mehrmals.“  Mit acht Jahren kam Karsten G. zu den Regensburger Domspatzen. Die Konzertreisen gaben ihm Halt, „man war von einem Tag auf den anderen nicht mehr das kleine Kind, sondern ein Star. Man sah die große Welt.“ Es waren solche Momente, die ihm Hoffnung gaben. Doch wie konnte alles so lange geheim bleiben? Während Georg Ratzinger von 1964 bis 1994 Domkapellmeister der Regensburger Domspatzen war, stieg sein Bruder Josef Ratzinger in Rom immer weiter auf, erreichte die dritthöchste Stelle im Vatikan bevor er Papst wurde. Er hatte Macht. Macht, die er ausnutze. Laut Medienberichten wies er 2001 alle Bischöfe weltweit an, jeden sexuellen Übergriff in erster Linie dem Vatikan zu melden. Dazu eine Anordnung, die sie strafrechtliche Verfolgung pädophiler Geistlicher verhinderte.

Auf die Nachfrage, wie das Bistum zu den Missbrauchsvorwürfen steht, zeigt sich Pressesprecher Clemens Neck betroffen: „Sie dürfen mir glauben: Es schmerzt mich und tut mir in der Seele weh: jeder einzelne Fall, hinter dem ja ein Mensch steht, eine Kinderseele in diesen Fällen, schwer gequält, oft für das Leben gezeichnet. Ich kann es nicht ungeschehen machen und die Betroffenen nur um Vergebung bitten.“ Außerdem beteuert er: „ Mein Anliegen war es von Anfang an, mit möglichst vielen Opfern persönlich zu sprechen – vorausgesetzt, die Gefahr einer Retraumatisierung kann ausgeschlossen werden – sie anzuhören und sie auch persönlich um Vergebung zu bitten. Ich wollte und will es nicht an die große Glocke hängen, weil es mir um die Menschen selber geht. Aber die Art und Weise, wie die Sache gegenwärtig in der Öffentlichkeit dargestellt wird, nötigt mich, auch öffentlich wenigstens ein paar Sätze dazu zu sagen. Ich bin Frau Dr. Birgit Böhm sehr dankbar, die – selbst schon todkrank – mich begleitet hat, um Missbrauchsopfer zu besuchen. Leider ist sie schon im Mai 2013 heimgerufen worden. Ich habe dann umgehend, nachdem ihr Nachfolger Dr. Martin Lindner ins Amt gekommen war, auch ihn gebeten, diese Begleitung fortzusetzen und die Besuche auch auf die Opfer von körperlicher Gewalt ausgedehnt.“

Zwei der damaligen Verantwortlichen in Etterzhausen und später noch in Pielenhofen haben den jungen Buben durch ihr Terrorsystem, dessen einzige pädagogische Maßnahme offenbar die körperliche Züchtigung war, die Hölle bereitet . „Man kann es nicht anders sagen“, so Neck. „Und man weiß nicht, was schwerer wiegt, die Striemen und blauen Flecken am Körper oder die Wunden der Seele, die nicht so schnell, oft gar nicht heilen. Es steht mir nicht zu, über die Täter zu urteilen oder zu richten. Sie können nicht mehr gehört werden, weil sie gestorben sind. Sie müssen sich vor dem Richterstuhl Christi verantworten. Aber es entsetzt und beschämt mich, wenn von so vielen weitgehend Gleichlautendes berichtet wird und dass ihnen nicht geglaubt wurde und somit ihr Leid verdoppelt wurde. Ich möchte heute und an dieser Stelle alle Betroffenen noch einmal ausdrücklich bitten, sich zu melden und Vertrauen zu haben in das Bistum. Uns ist ihr Schicksal nicht egal! Und ich werde weiter, aber im Verborgenen, mit Opfern sprechen und zwar mit möglichst vielen, mit allen, wenn sie es wünschen und wenn ich damit dazu beitragen kann, wenigstens ein wenig an der Heilung mitzuwirken.“

Zur Aufklärung des Falls hat das Bistum Rechtsanwalt Ulrich Weber beauftragt. Er arbeitet unabhängig vom Bistum. „Diese Unabhängigkeit ist von entscheidender Bedeutung  für sein Vorgehen. Deshalb wird das Bistum Regensburg in keiner Weise in diese Arbeit eingreifen.“, erklärt Neck. Rechtsanwalt Weber hat das Bistum Regensburg zu Gesprächen eingeladen. Bisher legte das Bistum Regensburg vier Berichte zu Anschuldigungen sexuellen Missbrauchs und körperlicher Misshandlung vor, die auf der Webseite des Bistums einzusehen sind.

Karsten G. kann heute kaum fassen, was ihm und unzähligen anderen Opfern damals passiert ist. „Diesen Blick der Präfekten habe ich nie vergessen. Ein Blick voller Gier.“ - „Ich habe das Bett vor lauter Angst eingenässt. Zur Strafe musste ich den Kopf am urinbefleckten Bettlaken reiben.“ Es waren Demütigungen, mit denen die ehemaligen Domspatzen noch heute zu kämpfen haben. „Es gab einen extra Tisch für die Bettnässer, an dem es nichts zu trinken gab. Manchmal hatte ich so einen Durst, dass ich mich zur Toilette geschlichen und aus dem Wasserhahn getrunken habe. Auch Mahlzeiten fielen weg. Wir hatten ständig Hunger und Durst“, erzählt Karsten G. „An anderen Tagen wurde uns das Betttuch über den Kopf gestülpt und die anderen Kinder sollten uns auslachen und schikanieren.“ Mit zehn Jahren kam ein Präfekt auf ihn zu und führte ihn in einen Raum, in dem mehrere Schüler Bier trinken, Zigaretten rauchen und Pornos schauen mussten. „Es waren keine Schwulen-Pornos, man sah mal einen Busen, mal eine Schambehaarung.“ Die Präfekten haben genau beobachtet, bei wem die Augen leuchten. „Sie wussten dadurch, bei wem sie leichteres Spiel haben könnten.“ Karsten G. schluckt, das Erzählen fällt ihm sichtlich schwer. Die Schmerzen sitzen tief. „Irgendwann in der Nacht kam dann ein Präfekt, griff unter die Bettdecke und fasste mir an den Penis. Der wächst und wächst und ich dachte mir nur ‚Oh Gott, was ist da los?‘, natürlich empfindet man das zu einem gewissen Teil auch noch als angenehm. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen soll…“

Zwischen 1945 und 2010 wurden 13 Geistliche wegen sexuellem Missbrauch an Kindern strafrechtlich verurteilt, darunter befanden sich zwei ehemalige Direktoren der Regensburger Domspatzen. Zwei Priester. Das Urteil: Es kam zu Betastungen des Körpers, zu gegenseitiger Onanie, zu Zungenküssen, geschlechtsverkehrähnlichen Handlungen, Schenkelverkehr und einmal auch zu versuchtem Afterverkehr. „Der Direktor hat drei Jungs aus einer Klasse über mir die Hose ausziehen und seinen Schwanz lutschen lassen. Irgendwann hieß es, die drei Schüler sind von der Schule geflogen. Nach ein paar Monaten ging auch der Direktor.“ Die pädophilen Geistlichen hatten leichtes Spiel. „Die konnten tun, was sie wollten. Sie brauchten nur hinfassen. Es war ja alles da“, so Karsten G.

Außerdem stellt sich die Frage, ob den Schülern Drogen und KO-Tropfen verabreicht wurden. Karsten G. erzählt außerdem von einer Behandlung, bei der er sich ohne Kleidung auf einen Stuhl stellen musste, ein Präfekt habe ihn überall untersucht. Zum Abschluss habe er eine Medizin bekommen, ab diesem Zeitpunkt weiß er nichts mehr. „Es gab Situationen, da wollte man einfach nur noch tot sein.“ Mittlerweile ist der 46-Jährige seit vielen Jahren in Therapie, er muss ein Leben lang mit den Folgen der Misshandlungen kämpfen. „Ich war total einsam, man konnte mit keinem reden. Ich hätte nur in der Kirche beichten können. Bei dem Präfekten, der mich misshandelt hat. Er hätte mich von meiner Schuld, ihn verführt zu haben, befreit. Das ist die Ironie an der ganzen Geschichte.“

Karsten G. stellte einen Antrag bei dem Bistum, sein Fall wurde untersucht. In der Zwischenzeit meldete sich der ehemalige Täter bei ihm und bat um ein Treffen. Erst stritt der damalige Präfekt alles ab, dann weinte er. Vor ihm und noch einer Zeugin entschuldigte er sich bei Karsten G.. Trotzdem lehnte das Bistum seinen Antrag ab ohne je persönlich mit ihm gesprochen zu haben. „Das Bistum stellte mich als einen Lügner dar. Es ist erniedrigend, beschämend.“ Mittlerweile ist Karsten G. verheiratet, seine Frau gibt ihm Halt, Kraft und ein kleines Stück Lebensfreude zurück.

Ganz anders erlebte die Zeit bei den Regensburger Domspatzen Andreas Rauh. Der Journalist und Radiomoderator war selbst in der Zeit von 1990 bis 2001 einer der Schüler. Seine Erfahrungen beschreibt er als durchweg positiv: „Es war die schönste Zeit meines Lebens und dafür bin ich auch heute noch sehr dankbar. Vieles hätte ich ohne die Domspatzen wohl nicht erlebt oder gesehen. Spontan fallen mir da die Fernsehaufnahmen im Euro-Disney Paris mit David Hasselhoff oder die Japanreise 2000 ein.“ Auch die Unterbringung der Kinder habe sich laut Rauh verbessert. „Als ich vor über einem Vierteljahrhundert zu den Domspatzen kam, da waren wir in der 5. Klasse noch mit sieben Mitschülern auf einem Zimmer, hatten gemeinsame Waschräume für 30 Personen etc. So ist aus damaliger Sicht das Internat heute ja fast auf dem Standard eines Luxushotels. Die Betreuungsrelation ist auch viel besser. Damals kamen auf einen Erzieher ca. 35-40 Schüler“, merkt Rauh an.

Die früheren Misshandlungen waren auch unter den Schülern in den 90ern ein Thema. „Auch  zu meiner Zeit wurde schon über Vorfälle in der Vorschule Pielenhofen gesprochen. Das waren aber nie Gespräche mit der Chor-, Schul- oder Internatsleitung. Unter uns Schülern wurde eben erzählt, dass Direktor Meier wohl sehr streng gewesen sein muss und den ein oder anderen von uns wohl auch mit kräftigen „Watschen“ bestraft haben soll. Wenn man nicht selber dabei war, glaubte man, dass derjenige wohl ein wenig übertreibt. In Regensburg war man ja auch weit genug von Pielenhofen weg. Mit den heutigen Erkenntnissen erscheinen diese Erzählungen natürlich in einem völlig anderen Licht. Von sexuellem Missbrauch war aber unter uns Schülern nie die Rede“, erinnert sich der Journalist. Der Umgang in seiner aktiven Zeit war dagegen auf elterlichem Niveau: „Ich glaube nicht, dass sich zu meiner Zeit die Methoden bei den Regensburger Domspatzen sonderlich von denen meiner Eltern unterschieden haben. Sicher gab es Strafarbeiten, dass man mal 3 oder 4 Seiten aus dem Lateinbuch abschreiben musste. Aber von uns wurde nach meiner Kenntnis niemand mehr verprügelt. Auch sexuelle Übergriffe von Lehrern oder Erziehern habe ich nicht erlebt.“ Unsicheren Eltern empfiehlt er den Gang zu einem Tag der offenen Tür und bestätigt: „Ich würde meinen Sohn den Domspatzen heute auf alle Fälle bedingungslos anvertrauen.“

Eine abweichende Meinung davon hat Michael Sieber, ehemaliger Domspatz und Gründer von intern-at.de, einer Internetseite für den gegenseitigen Kontakt unter ehemaligen Domspatzen. In einem Interview erzählt er von seinem Erfahrungsaustausch mit anderen Opfern und schätzt die Lage aus seiner Sicht ein.

1. Wie kam es zur der Gründung von intern-at.de, einer Seite für den Kontaktaustausch unter ehemaligen Domspatzen?
Das passierte schon im Frühjahr 2010, als erste Betroffene und ehemalige Mitschüler (als Zeugen) Kontakt untereinander aufgenommen hatten. Es galt Informationen zur Verfügung zu stellen, Unterlagen auszutauschen bzw. allen Beteiligten zugänglich zu machen etc. Es war tatsächlich „intern“, die Seite war nicht allgemein zugänglich. Im Juni 2010 haben sich dann erstmals einige „Ehemalige“ im Altmühltal getroffen und da entschieden auch einen „öffentlichen“ Teil anzulegen, der aber ebenfalls vorerst nicht verlinkt oder in Suchmaschinen eingespeist werden sollte, weil wir abwarten wollten, ob das Bistum Regensburg eine akzeptable Aufarbeitung in Angriff nimmt oder nicht. Deshalb haben wir nach dem Einstellen der ersten Artikel die Adresse der Website auch Vertretern des Bistum Regensburg bekannt gemacht, um zu zeigen, dass wir auch den Weg in der Öffentlichkeit gehen werden, wenn wir den Eindruck haben, dass alles wieder unter den Teppich gekehrt werden soll.

2. Welche Rolle spielen Sie dabei, weshalb beschäftigen Sie sich mit dem Fall?
Für mich persönlich war das ein längst abgeschlossenes Kapitel meines Lebens. Ich habe immer offen darüber gesprochen, was ich dort erleben musste. Gemessen an dem was viele andere erlebt haben war es vielleicht wenig – singulär als Einzelfall betrachtet, war es schwere Körperverletzung mit lebenslangen Folgeschäden. Was mich 2010 „auf die Palme“ gebracht hat, war das öffentliche Bestreiten von sexuellem Missbrauch und Gewalt in den siebziger Jahren – da war ich selber noch in Regensburg und habe einiges mitbekommen. Ich hatte zufällig Alexander Probst im Fernsehen gesehen und in den Tagen danach hieß es in vielen Äußerungen aus Domspatzenkreisen der Täter Sturmius Wagner wäre nur ganz kurz bei den Domspatzen gewesen und schon gar nicht zu Zeiten von Alexander Probst. Da ich noch jede Menge Domspatzenunterlagen aus „Familienbeständen“ im Aktenlager hatte, habe ich mich drangemacht diese zu sichten und habe diese dann auch Alexander Probst zur Unterstützung angeboten. Wie es dann manchmal so geht im Leben, blieb es schließlich an mir hängen die Homepage zu organisieren und letztlich bin ich dann in diese Arbeit reingerutscht.

3. Mit wie vielen ehemaligen Domspatzen stehen Sie in Kontakt?
Es gibt keine konkreten Zahlen -  aber, nach der Pressekonferenz von RA Weber kann ich so viel sagen, ich habe schon mit erheblich mehr „Ehemaligen“ gesprochen als beispielsweise RA Weber zum Zeitpunkt seiner Pressekonferenz.

4. Sie stehen in sehr engem Kontakt mit den Opfern. Wie erleben Sie diese Zeit mit Ihnen?
Das ist höchst unterschiedlich und hängt zum großen Teil vom Befinden meines jeweiligen Gegenübers ab. Aber ich muss ehrlich gestehen, vor jedem Zusammentreffen mit einem „Neuen“ bin ich schon sehr angespannt. Ich weiß ja vorher nie was mich wirklich erwartet, ein Vorgespräch am Telefon sagt nur sehr wenig über die wirkliche Verfassung eines Menschen aus. In einigen wenigen Fällen ist es ein angenehmes Gespräch über missliche Begebenheiten in der Vergangenheit. In der ganz großen Mehrheit ist es ziemlich anstrengend. Zum einen ist man sich vorher nicht begegnet, muss sich also erstmal kennenlernen, zum zweiten sind die meisten bei einem ersten Gespräch meist nicht in der Lage viel zu erzählen. Das passiert eher bruchstückhaft und zusammenhanglos. Ich habe Ehemalige getroffen, die beim ersten Mal nur gesagt haben, dass sie sexuellen Missbrauch erdulden mussten, ansonsten wollten oder konnten sie nicht mehr erzählen. Es hat manchmal zwei Jahre gedauert, bis sie sich dann wieder gemeldet haben um mehr zu erzählen. Es braucht großes Vertrauen um mit einem „Fremden“ über solche Themen zu sprechen. Da ist es auch blauäugig vom Bistum Regensburg oder RA Weber zu glauben, man startet einen Aufruf und die Leute greifen zum Telefon machen einen Termin, kommen mal kurz vorbei und legen in einem Aufwasch alles auf den Tisch. Das geht nur bei Leuten, die sich schon Jahre vorher selber um Therapie und Hilfe gekümmert haben.

5. Wie schwer ist es für die Opfer das Erlebte zu verarbeiten?
Das ist sehr unterschiedlich und hat natürlich auch viel mit der individuellen Persönlichkeit und ihrem privaten Umfeld zu tun. Es gibt Ehemalige die haben das auch ohne Therapie weitgehend im Griff. Andere brauchen eine Therapie, wieder andere werden ein Leben lang nicht ohne therapeutische Hilfe oder Begleitung auskommen.

6. Wo sehen Sie die größten Schwierigkeiten bei der Aufklärung?
Zum einen gibt es immer noch eine große Zahl Ehemaliger, die aufgrund der letzten sechs Jahre kein Vertrauen in das Bistum Regensburg und seine Beauftragten haben, und das ist auch vollumfänglich nachvollziehbar, wenn man sich das Verhalten des Bistums und den teilweise rüden Umgang mit den Betroffenen anschaut. Da muss sich das Bistum endlich bewegen. Solange das Bistum Aufklärung versucht, ohne die Betroffenen nicht gleichberechtigt einzubeziehen, kann das nicht gelingen. Zum anderen gibt es in den Domspatzeninstitutionen viel zu viele Ehemalige und auch andere Beschäftigte, die zumindest einiges wissen mussten. Die fürchten natürlich um Ihr Ansehen, wenn rauskommt, dass sie doch etwas wussten, obwohl sie alle im Jahr 2010, als das ganze öffentlich wurde, so taten, als hätte es niemals Gewalt oder sexuellen Missbrauch bei den Domspatzen gegeben.

7. Wie konnte das Schweigen des Bistums so lange halten?
Das fragen Sie mal Herrn Neck (lachend) – Ganz einfach, die jahrzehntelange Taktik wurde wiederholt, hat ja bis dahin immer funktioniert. Aber, diesmal gab es ein neues Medium,  dessen Langzeitwirkung das Bistum nicht auf dem Plan hatte – Internet. Ohne Internet wäre die Geschichte auch diesmal für das Bistum beerdigt gewesen. Besorgen Sie sich einfach mal eine alte Ausgabe der Mittelbayrischen, die Wochenendausgabe vom 4./5. November 1989. Ganzseitige Berichterstattung über Gewalt bei den Domspatzen, vor allem Etterzhausen. Lesen sie die Aussagen des damaligen Vereinsvorsitzenden Werner Wollenweber und Internatsdirektors Winterholler. Dann vergleichen Sie die Aussagen mit dem Bericht von RA Weber – nur zum Thema Gewalt. Ich nenne das Verlogen, was die beiden Herren damals zum Besten gegeben haben. Nehmen Sie die Aussagen von Ratzinger vom „Nichtwissen“ der Gewalt in der Vorschule, spätestens da hat er es gewusst. Das Schreckensregime von Direktor Meier ging aber ungehindert weiter. Auch das Bistum Regensburg hat offensichtlich keinerlei Handlungsbedarf gesehen. Und dann kam Ihnen vier Tage später der Mauerfall zu Hilfe, keine überregionale Presse hat sich zu der Zeit noch für Regensburg interessiert.

8. Warum hüllten sich die Opfer so lange in Schweigen?
Ein wesentlicher Grund war, weil Ihnen niemand geglaubt hat, ich habe das oft genug selber erlebt. Viele der Betroffenen haben mir ähnliches erzählt. Lesen Sie einfach mal nach, wie das Bistum und die Regensburger Domspatzen die ersten öffentlichen Äußerungen kommentiert haben. Oder besser noch – fragen Sie einfach mal die Domspatzeneltern, die 2010 bei der Elternberuhigungsveranstaltung im Wolfgangssaal in der Diepenbrockstraße waren. Normalerweise hätten sich die Deckenbalken durchbiegen und einstürzen müssen, bei dem was da erzählt wurde. Zum zweiten hatten viele Betroffene lange Jahre das Gefühl sie wären die Einzigen, die so was erlebt hatten, oder sie würden sich das alles nur einbilden. Auch hier hat ja erst das Internet die Möglichkeit geboten, andere Betroffene leichter zu finden, Kontakte aufzubauen und wieder den Mut zu finden über die Geschehnisse zu sprechen. Das ist übrigens auch eine wichtige Erkenntnis bei unseren Treffen. Es kommen da immer noch neue Leute, die hinterher immer wieder sagen, endlich kann ich mal drüber reden, ohne dass gleich jemand zweifelnd unterbricht, endlich weiß ich, dass das doch nicht nur verrückte Einbildungen sind, die da jahrelang in meinem Kopf rumschwirren, da sitzen ja andere, die genau das Gleiche erlebt haben.

9. Josef Ratzinger wusste scheinbar von den Missbrauchsfällen, forderte alle Bischöfe weltweit auf, derartige Fälle dem Vatikan zu melden und gab außerdem die Anordnung heraus, dass geistliche Pädophile nicht strafrechtlich verfolgt werden. Wissen Sie, inwieweit das stimmt und wie Josef Ratzinger zur Vertuschung derartiger Missbrauchsfälle beigetragen hat?
Ich weiß da auch nur so viel, wie im Laufe der Jahre in der Presse zu lesen war. Nachdem dieser Darstellung aber nie wirklich widersprochen wurde, ist anzunehmen, dass das wohl so richtig ist.

10. Warum wurde so lange nichts unternommen?
Ja es stimmt – es wurde nie wirklich etwas unternommen. Ich will das mal umkehren. Warum sollte das Bistum Regensburg besser oder rechtsstaatlicher korrekt handeln, als der übrige Rest der katholischen Kirche. Das Vertuschen ist systembedingt. Da könnte man jetzt ein eigenes einstündiges Referat halten. Es sei nur eins erwähnt, noch 2010 erlaubte es sich ein Kirchenvertreter im öffentlich-rechtlichen Fernsehen die von sexuellem Missbrauch durch kath. Geistliche betroffenen Kinder als „Verführer“ zu bezeichnen. Das beschreibt das innere Denken der kath. Kirche besser als jeder lange Vortrag

11. Noch immer sind Mitarbeiter der Regensburger Domspatzen in der Chor-bzw. Schulleitung tätig, die die damalige Zeit miterlebt haben. Denken Sie, es könnten sich derartige Fälle auch heute noch ereignen?
Bei der systematischen Gewalt möchte ich das ausschließen. Einzelfälle von Gewalt können Sie nie ausschließen, sie sind Bestandteil des täglichen Lebensrisikos, gleiches gilt für den sexuellen Missbrauch. Die viel größere Gefahr, der von Ihnen beschriebenen Beziehungsgeflechten, liegt im Umgang mit solchen Taten. Da kann man natürlich nicht ausschließen, dass sofort wieder alte Vertuschungsmechanismen greifen, zumindest ist die Gefahr dafür bei diesen Verflechtungen ungleich größer.

Bis Redaktionsschluss lag keine Stellungnahme von den Regensburger Domspatzen vor.


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Bild: Igor Bulgarin / bigstock.com

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