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Woran denken Sie, wenn Sie das Wort „Tierversuche“ hören? An putzige Hamster im Laufrad? An flauschige Hasen, an denen Shampoo getestet wird? Oder an flinke Mäuse, die durch ein Labyrinth flitzen? Aufnahmen aus dem November 2019 zeigen, welchen Horror die Tiere teilweise wirklich durchleben:Hunde siechen in ihren Blut verschmierten Zwingern vor sich hin. Katzen kreischen in ihren Käfigen aufgrund ihrer schmerzenden, mit zig Nadelstichen übersäten Beine. Und den Labor-Affen ist die Todesangst ins Gesicht geschrieben, während sie versuchen, ihren Kopf aus einer Metallfixierung zu befreien. Beim Ort des Geschehens handelt es sich aber keineswegs um ein Versuchslabor in Asien oder Übersee. Die vom SOKO Tierschutz aufgezeichneten Szenen stammen aus einem Tierversuchslabor bei Hamburg.

Kurze Geschichte der Tierversuche

Die Idee, mit Hilfe von Tierversuchen Rückschlüsse auf den Menschen zu ziehen, ist uralt. Bereits für das fünfte Jahrhundert vor Christus lassen sich Versuche im antiken Griechenland zur Untersuchung des Sehnervs am lebenden Tier dokumentieren. Auch im Corpus Hippocraticum (um 300 v.Chr.) werden wissenschaftliche Untersuchungen zur Kontraktion des Herzens an lebendigen Schweinen erwähnt. Ob die Schrift Über das Herz auf den Urvater der Medizin, Hippokrates von Kos (460-370), zurückzuführen ist, bleibt fraglich. Denn die Grundlagen seiner medizinischen Forschung waren die bis heute durchgeführten klinischen Studien, die eine sorgfältige Beobachtung, Befragung und Untersuchung sowie eine ausführliche Anamnese des Patienten forderte.

Eingang in die Standardwerke der Medizin fanden die Ergebnisse aus Tierversuchen schließlich im zweiten Jahrhundert nach Christus. Da Leichenöffnungen in der Antike – bis auf eine kurze Periode in den Alexandrinischen Ärzteschulen während des dritten Jahrhunderts vor Christus –tabuisiert waren, behalf sich Galenos von Pergamon (ca. 130 - 210 n.Chr.) – Anatom, Gladiatorenarzt und Leibarzt Marc Aurels – bei seinen Studien mit der Sektion von Tieren. Hierzu wurden die Tiere, darunter Schweine, Hunde und Affen, häufig bei vollem Bewusstsein an Bretter genagelt und anschließend geöffnet. Seine so am Tierleib gewonnenen Erkenntnisse flossen anschließend ungefiltert in das medizinische Wissen über den Menschen ein. Erst mit der Etablierung der menschlichen Obduktion als Basis für anatomische Studien im 16. Jahrhundert konnten Galenos’ Fehler in seinen bis dato als allgemeingültig anerkannten Medizinbüchern korrigiert werden.

Trotz der augenscheinlichen Unterschiedlichkeit zwischen Mensch und Tier kehrte die Medizin rund 300 Jahre später zum Tierversuch zurück. Anstoß für diese Entwicklung lieferte der französische Physiologe Claude Bernard (1813-1878). Seine Theorie: Körperliche Prozesse unterstünden den gleichen unveränderlichen Naturgesetzen, wie sie auch in der Physik oder der Chemie zu beobachten seien. Demzufolge ließen sich nicht nur Einflüsse auf die Physiologie eines Organismus nehmen, sondern auch deren Folgen untersuchen und die Ergebnisse auf andere Organismen übertragen. Anstatt medizinische Studien nur auf Beobachtungen von Patienten und Gewebeproben zu stützen, forderte Bernard eine experimentelle medizinische Forschung im Labor. Da er die Auffassung vertrat, Tiere und Menschen unterschieden sich nur geringfügig bis gar nicht voneinander, galten sie ihm als die perfekten Testobjekte zur Untersuchung von menschlichen Krankheiten und Leiden. Nur kurze Zeit später etablierten sich Tierversuche als wesentlicher Bestandteil der medizinischen Forschung – und das mit grausamen Folgen für Milliarden von Tieren. Bereits in den 1960ern stiegen die Tierversuchszahlen auf etwa 30 Millionen, zehn Jahre später ließen etwa 100 bis 200 Millionen Tiere in den biomedizinischen Versuchslaboren ihr  Leben. Heute leiden Schätzungen zufolge pro Jahr bis zu 300 Millionen Tiere in Tierversuchslaboren auf der ganzen Welt – offizielle Statistiken existieren hierzu allerdings nicht.

Tierversuche in Deutschland

Horrorzustände wie sie der SOKO Tierschutz im Laboratory of Pharmacology and Toxicology (LTP) bei Hamburg 2019 aufgedeckt hat, dürften in Deutschland keinen Einzelfall darstellen. Denn selbst wenn die Labore auf die Einhaltung geltender Tierschutz- und Haftschutzbestimmungen regelmäßig kontrolliert werden, können die zuständigen Veterinäre ähnlich wie bei Kontrollen von Bauernhöfen nicht alle Verstöße erfassen. Der Fall LTP bestätigt dies. Denn gerade jenes Versuchslabor bei Hamburg wurde mit neun Kontrollen in fünf Jahren verhältnismäßig oft kontrolliert – allerdings ohne dass die Veterinäre oder das zuständige Amt einen einzigen Verstoß registriert hätten. Erst das Einschleusen eines verdeckt dokumentierenden Informanten über mehrere Monate hinweg brachte die Missstände des bei Hamburg ansässigen Forschungslabors ans Tageslicht.

Laut dem Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) wurden 2018 annähernd 2,1 Millionen Tiere in den deutschen Tierversuchslaboren verwendet. Die Anzahl der Tiere, die für wissenschaftliche Zwecke vor dem Versuch getötet wurden, liegt bei zusätzlichen 686.352 Stück. Mit diesen Stückzahlen rangiert Deutschland auf Platz zwei des EU-weiten Verbrauchs an Tieren – direkt hinter dem Vereinigten Königreich mit rund drei Millionen verwendeten Tieren. Der Gesamtverschleiß beläuft sich in der Europäischen Union sogar auf über 10,2 Millionen Versuchstiere – die für wissenschaftliche Zwecke getöteten Tiere exklusive.
Als hauptleidtragende Versuchstiere gelten in Deutschland mit einem Anteil von 72 Prozent (1.539.575 St.) immer noch Mäuse. Doch auch Ratten (222.811 St.), Fische (192.040 St.), Kaninchen (85.193 St.), Schweine (18.883 St.), Meerschweinchen (14.229 St.), Rinder (7.307 St.) Schafe (4.751 St.) Hunde (3.979 St.), Affen (2.609 St.), Katzen (765 St.) und Tiere vieler weiterer Arten wurden 2018 in der Forschung verwendet.

Grund für die horrende Zahl an Tierversuchen: Grundlagenforschung sowie rund 20 EU-Gesetze, Verordnungen und Richtlinien, die Tierversuche beispielsweise zur Giftigkeitsprüfung vorschreiben. Hierunter fällt auch die Chemikalienverordnung, die die Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe innerhalb der EU regelt. Auf Basis der REACH-Verordnung mussten für die Erfassung aller in der EU verkehrenden Chemikalien zwischen 2012 und 2018 rund 30.000 Chemikalien auf ihre Giftigkeit geprüft werden. Selbst wenn das Umweltbundesamt in diesem Zusammenhang betonte, dass „Tierversuche nur als letzte Möglichkeit eingesetzt werden [durften] und die Entwicklung von Alternativmethoden zu befördern [war]“, dürfte der Großteil der über 30.000 Bewertungen aus Mangel an Alternativen auf Tierversuche zurückzuführen sein.

Doch auch die Arzneimittel- oder Impfstoffentwicklung, die sowohl die Wirksamkeit eines Medikaments oder Impfstoffes als auch die Beschreibung der Nebenwirkungen erfasst, verschlingt Massen an Tierleben – von der Grundlagenforschung, die keinen direkten medizinischen Nutzen aufweisen muss, ganz zu schweigen. Laut BMEL werden mehr als 940.000 aller verwendeten Tiere in Deutschland alleine für die Grundlagenforschung verwendet, um zentrale Fragen wie „Wie funktioniert der Körper?“ oder „Wie entstehen Krankheiten?“ zu beantworten. Staatlich angeordnete Versuche für regulatorische Forschungszwecke wie Giftigkeitsprüfungen und Risikobewertungen von chemischen Substanzen verbrauchen hingegen „nur“ rund 480.000 Tiere. Der Rest entfällt auf die medizinische Forschung, Hochschulausbildung und andere Zwecke. Für die Krebsforschung etwa wurden 2018 rund 122.000 Tiere in Deutschland aufgewendet. Für Tierversuche im Bereich der Kosmetika herrscht ein grundsätzliches EU-weites Verbot.

Nur zwei Mäuse pro Person?

Tierversuche oder Misshandlungen von Tieren im Allgemeinen gelten spätestens seit dem frühen 19. Jahrhundert als ethisch bedenklich. Grundlage für die aufkeimende Kritik war die Ablösung der Descartes’schen Sicht, Tiere würden weder über ein Bewusstsein noch über ein Gefühlsleben verfügen, was fortfolgend auch Experimente am lebendigem Leib rechtfertige. Ethiker und Philosophen der frühen Neuzeit wie Jeremy Bentham (1748-1832) erhoben sich schließlich über diese Annahmen und sprachen allen empfindungsfähigen Lebewesen die Möglichkeit zu, Leid zu empfinden. Der Umgang mit Tieren sollte nicht mehr auf der Frage nach der Sprach- oder Vernunftfähigkeit der Lebewesen basieren, sondern von der Antwort abhängen, ob diese leiden können.

Auch Claude Bernard hatte mit dieser Ansicht durchaus zu kämpfen. Denn während er der Meinung war, dass Leid der Tiere sei gerechtfertigt, da der Nutzen bei weitem überwiege, trennte sich seine Familie aufgrund der von ihm durchgeführten, oft grausamen Tierversuche zeitlebens von ihm. Diese Begebenheit veranschaulicht die Lagerbildung, wenn es um die Beantwortung der Frage nach der Sinnhaftigkeit von Tierversuchen geht: Während die Befürworter den notwendigen Nutzen für das Wohl der Menschheit in den Vordergrund stellen, verweisen die Gegner auf das massenhafte und unnötige Leid der Versuchstiere.

Wie wichtig Tierversuche für den Fortschritt der Medizin waren oder heute noch sind, veranschaulicht die „Allianz der Wissenschaftsorganisationen“ – der unter anderem die Alexander von Humboldt-Stiftung (AvH), die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die Fraunhofer-Gesellschaft (FhG) und die Max-Planck-Gesellschaft angehören – mit Hilfe zahlreicher medizinischer Errungenschaften. Die Allianz listet bei der Rechtfertigung von Tierversuchen auf, wie viele Nobelpreise in Medizin direkt mit den aus Tierversuchen gewonnen Erkenntnissen verknüpft sind: die Entwicklung eines Heilmittels gegen Diphtherie von Emil von Behring (1901), die Entdeckung des Malaria- und des Tuberkulose-Erregers von Ronald Ross (1902) und von Robert Koch (1905), die Entdeckung des Insulins von Frederick Banting und John Macleod (1923), die Entdeckung des Penizillins von Alexander Fleming, Ernst Chain und Howard Florey (1945) und viele weitere mehr. Insgesamt gehen 89 Prozent aller Nobelpreise für Physiologie und Medizin auf Ergebnisse zurück, die ganz oder teilweise durch Tierversuche gewonnen werden konnten.

Auch die Zahlen der verwendeten Versuchstiere setzt die Wissenschaft in einen verhältnismäßigen Rahmen. Laut der Allianz der Wissenschaft kamen 2015 rund zwei Millionen Mäuse in deutschen Tierversuchen zum Einsatz. Würde man diese Anzahl mit der durchschnittlichen Lebenserwartung eines Deutschen von 80,6 Jahren verrechnen, entspreche dies einer Summe von 160 Millionen. Somit werden pro Bundesbürger und Lebenszeit zwei Mäuse zur Erforschung von Diabetes, Krebs, Demenz und Hunderten weiteren Krankheiten in Deutschland verwendet. Der Gesamtanteil der verwendeten Tiere in der Forschung betrage dabei lediglich 0,26 Prozent der in Deutschland insgesamt verwendeten Tiere – 99,15 Prozent entfielen hingegen auf die Ernährung.

Fest steht: Die moderne Medizin hat mit ihrer Methodik in den letzten zwei Jahrhunderten weitreichende Fortschritte für das Wohl der Menschen gemacht. Galten Wundbrand und Infektion mit Tetanus, Diphterie oder Polio vor rund 200 Jahren noch als lebensbedrohlich, sind die Auswirkungen dieser Krankheiten in der heutigen Gesellschaft in Vergessenheit geraten. Die erhebliche Bandbreite an existierenden, effektiven Wirk- und Impfstoffen gegen hunderte Leiden und Krankheiten wären für das Gro der Wissenschaft ohne Tierversuche kaum denkbar.

Trotz dieser Argumente und der einschneidenden Erfolge der Tierversuche für die Humanmedizin bleibt für viele Ärzte die Verwendung von Tierversuchen in der Medizinforschung fraglich. Mehr noch: Aufgrund der physiologischen Unterschiede zwischen Tier und Mensch birgt sie sogar erhebliche Gefahren für den Menschen. Denn nicht jeder chemischer Stoff wirkt bei Tier und Mensch gleichermaßen: Was für Ratten giftig ist, kann beim Menschen als gut verträgliches Therapeutikum eingesetzt werden. Und was für Hamster ungefährlich ist, kann beim Menschen für schwere Missbildungen sorgen.

Als prominentes Beispiel gilt der 1948 in den USA als Rattengift patentierte Wirkstoff „Warfarin“. Als 1951 ein Mitglied der US Navy versuchte, sich das Leben mit dem vermeintlichen Rattengift zu nehmen, sich aber wieder vollständig erholte, entdeckte man die unterschiedliche Wirkung von Warfarin auf Tier und Mensch. Während es bei verschiedenen Tierarten bereits in kleineren Mengen zu inneren Blutungen führt, hemmt es beim Menschen lediglich die Blutgerinnung. 1954 wurde dem US-amerikanischen Präsidenten Eisenhower mit der Gabe von Warfarin nach einem schweren Herzinfarkt sogar das Leben gerettet. Fortan hieß es: „Was gut für einen Kriegshelden und Präsidenten der Vereinigten Staaten ist, muss gut für alle sein, obwohl es Rattengift ist.“

Der Mensch eine 70-Kilo-Ratte?

Die moderne Humanmedizin hat gezeigt, was für die Psychologie bereits selbstverständlich ist: Jeder Mensch ist ein einzigartiges Individuum. Dies lässt sich vor allem daran ablesen, dass ein bestimmtes Medikament für ein spezifisches Leiden bei jedem Menschen unterschiedlich gut hilft. Während der eine Patient mit schweren Nebenwirkungen zu kämpfen hat, wirkt es bei einem anderen beispielsweise anstandslos gut. Ein Dritter Patient kann dabei sogar so gut wie überhaupt nicht auf ein Medikament reagieren. Wie also lässt sich die Übertragung von Ergebnissen von der einen Spezies auf die andere rechtfertigen, wenn bereits die Ergebnisse von Mensch zu Mensch unterschiedlich ausfallen? Zumal sich Mensch und Tier erheblich in Körperbau, Stoffwechsel und Organfunktion unterscheiden.

Laut der Studie „Konkordanz der Toxizität von Arzneimitteln bei Mensch und Tier. Regulatorische Toxikologie und Pharmakologie“ aus dem Jahr 2000 lassen sich mithilfe von Tierversuchen nur 43 Prozent der beim Menschen auftretenden Nebenwirkungen mit Versuchen an Mäusen und Ratten vorhersagen. Der Anteil der verwendeten Tiere in diesem Forschungsbereich beträgt dennoch 81 Prozent.

Die britische Studie „Die Zukunft der Teratologieforschung liegt in der In-vitro-Forschung“ aus dem Jahr 2005 ging noch einen Schritt weiter und untersuchte die Ergebnisse der Tierversuche, die das Risiko für Missbildungen bei Ungeborenen erfassen sollten. Das Ergebnis der Studie ist nahezu verheerend: Fast die Hälfte der Substanzen, die beim Menschen nachweislich zu Fehlbildungen führen können, wurden anhand der Ergebnisse aus Tierversuchen als ungefährlich eingestuft. Und nicht nur das: Fast die Hälfte der Medikamente, die in der Schwangerschaft komplikationslos eingenommen werden können, wurden bei Tierversuchen als bedenklich eingestuft. Statistisch betrachtet wäre ein Münzwurf also kaum weniger aussagekräftig.

Beispiele für unterschiedliche Reaktionen von Mensch und Tier auf verschiedene Substanzen:

Substanz

Mensch

Tier

Asbest

Krebs

verträglich für Ratten, Hamster

Arsen

giftig

gut verträglich für Schafe

Contergan

Missbildungen

keine Missbildungen bei Tieren (außer bestimmten Affenarten und Kaninchen)

Cortison

verträglich

Missbildungen bei Mäusen

Penicillin

gut verträglich

schädlich für Meerschweinchen, Hamster

Paracetamol

gut verträglich

giftig für Katzen


Künstliche Symptome für reale Erkrankungen

Ein weiterer Punkt, der sich gegen Tierversuche ausspricht, wurde bereits um 1900 von Robert Koch erkannt: Infektionskrankheiten des Menschen lassen sich nur bedingt bis gar nicht auf die Tierwelt übertragen. So weisen Tiere nicht nur Immunitäten gegenüber verschiedenen Krankheitserregern auf – andersrum übrigens auch –, vielmehr treten Zivilisationskrankheiten und manche Humankrankheiten wie Parkinson oder Alzheimer in der Tierwelt überhaupt nicht auf. Da die Wissenschaft diese Krankheitsbilder und etwaige Therapien aber dennoch am Tier erforschen will, müssen die hierzu notwendigen Forschungsmodelle mittels Gentechnik, Operationen, Medikamenten oder Versuchsanordnungen erst erschaffen werden. Da die Übertragung von bestimmen Krankheiten von Mensch auf Tier aber überhaupt nicht möglich ist, werden zahlreiche Tiermodelle so manipuliert, dass sie wenigstens ähnliche Symptome entwickeln: Zur Erforschung von Tumoren werden Krebsmäuse mittels Genmanipulation oder der Injektion menschlicher Krebszellen hergestellt. Durch das Spritzen von Nervengift in die Gehirne von Ratten, Mäusen und Affen erzielt man ein ähnliches Zittern, wie es bei Parkinsonkranken auftritt. Und für die Depressionsforschung erzeugt man Resignation bei Ratten, indem man sie in einen Wasserbehälter setzt, aus dem sie nicht flüchten können – hören die Ratten anschließend auf zu schwimmen, gelten sie bei den Forschern als depressiv.

Eine Großzahl an Versuchsreihen wird dabei nur mit dem Ziel durchgeführt, derartige Tiermodelle erst zu entwickeln, um im Anschluss in weiteren Tierversuchen Wirkstoffe oder andere Therapieformen zur Beseitigung der künstlich erzeugten Symptome auszuprobieren. Erweist sich ein Mittel im Tierversuch als wirksam, gilt es als mögliche Therapie gegen ein menschliches Leiden oder eine menschliche Erkrankung – die Erforschung der menschlichen Erkrankung oder von wesentlichen Aspekten der Krankheitsentstehung bleiben beim Tierversuch notgedrungen außen vor.

Die mangelnde Übereinstimmung zwischen künstlicher Tiersymptomatik und menschlichen Erkrankungen lässt sich insbesondere am Scheitern dreier Studienbereiche ablesen: der tierexperimentellen Alzheimerforschung, Multiple-Sklerose-Forschung und Krebsforschung.

Während die Wissenschaft bereits erfolgreich 300 Therapien für „Alzheimer-Mäuse“ oder andere Tierarten entwickelt hat, konnte sich kein einziges der Medikamente als einschlägig wirksam beim Menschen erweisen. 100 Jahre MS-Forschung haben gezeigt, dass Tiere lediglich zwölf der 5.000 Multiple-Sklerose-verantwortlichen Gene besitzen, die im Tierorganismus noch dazu komplett gegensätzlich funktionieren. Bei der Krebsforschung zeigt sich ein ähnliches Bild: Nach 200 Jahren Krebsforschung am Tier lautet die Essenz von Dr. Klausner, ehemaliger Direktor des National Cancer Institutes: „Die Geschichte der Krebsforschung ist die Geschichte, wie man Krebs bei Mäusen heilt. Seit Jahrzehnten heilen wir Krebs bei Mäusen, aber beim Menschen klappt es einfach nicht.“

Heilversprechen oder doch Lotterie?

„Keine andere wissenschaftliche Methode ist so unzuverlässig und unberechenbar wie der Tierversuch“, erklärt das Positionspapier des Vereins Ärzte gegen Tierversuche. Dieser Angriff kommt auch keineswegs von ungefähr. Denn Fakt bleibt, dass sich die menschlichen Reaktionen auf einen Wirkstoff anhand von Tierversuchen definitiv nicht abbilden lassen. Gerade einmal 43 Prozent der Nebenwirkungen können mittels Tierversuche vorhergesagt werden. Wie ein Medikament wirklich im menschlichen Organismus wirkt, lässt sich erst in den klinischen Studien am Menschen feststellen. Und gerade diese haben es für am Tier getestete Arzneimittel in sich: Zwischen 92,5 bis 95 Prozent der im Tierversuch als unbedenklich und wirksam eingeschätzten Medikamente rasseln durch die vorgeschriebenen, im Anschluss stattfinden klinischen Testphasen – entweder aufgrund gravierender Nebenwirkungen beim Menschen oder dem schlichten Ausbleibenden einer Wirksamkeit.

Doch selbst dann, wenn ein Medikament in den Markt eingeführt wurde, gilt ihre Unbedenklichkeit keineswegs als vollständig abgesichert. Rund ein Drittel aller zugelassenen Medikamente muss im Anschluss wegen schwerwiegenden Nebenwirkungen entweder aus dem Markt zurückgezogen oder mit Warnhinweisen versehen werden. Das als „Superaspirin“ angepriesene und von deutschen Hausärzten fast schon wie Lutschbonbons verschriebene Schmerzmittel Vioxx® musste beispielsweise Ende September 2004 urplötzlich vom Markt genommen werden. Eine Langzeitstudie über 18 Monate hatte ergeben, dass die lange Zeit vernachlässigten Nebenwirkungen zu erheblichen Herzerkrankungen und einem verdoppelten Schlaganfallrisiko führten. Allein in den USA wird die Fallzahl der Geschädigten auf bis zu 140.000 geschätzt. Noch kurz zuvor hatte die US-Gesundheitsbehörde die Zulassung des Medikaments auf Kinder ab zwei Jahren erweitert. Aufgrund der vermehrten Medikamentenskandale in den letzten Jahrzehnten müssen seit 2013 in allen EU-Staaten Arzneimittel mit zu geringen Daten aus Langzeitstudien mit einem schwarzen Dreieck gekennzeichnet werden. Diese Medikamente stehen „unter zusätzlicher Überwachung“.
Laut einer Studie der Medizinischen Hochschule Hannover werden die Risiken der Arzneimitteltherapie in Deutschland von den Ärzten generell „erheblich unterschätzt“. Die Pharmakologen Dr. J. U. Schnurrer und Prof. Dr. J. C. Frölich, Urheber der Studie „Zur Häufigkeit und Vermeidbarkeit von tödlichen unerwünschten Arzneimittelwirkungen“, führen pro Jahr etwa 58.000 Todesfälle im stationären Bereich der Inneren Medizin auf unerwünschte Arzneimittelwirkungen zurück. Zusätzlich ermahnt Frölich, dass sogar jede 20. Krankenhausaufnahme auf unerwünschte Nebenwirkungen zurückzuführen sei. In der internistischen Abteilung, in der vor allem ältere Patienten behandelt werden, seien es überdies dreimal so viele Patienten. „Das ist die häufigste Krankheit, die es gibt“, quittiert Frölich.

Beispiele von Medikamenten, die trotz eingehender Tierversuche aufgrund schwerer Nebenwirkungen vom Markt genommen werden mussten:

Avandia®

Diabetesmedikament

erhöhtes Schlaganfall- und Herzinfarktrisiko

Lipobay®

Cholesterinsenker

Muskelzerstörung, Todesfälle

Vioxx®

Rheumamittel

Herzinfarkte, Schlaganfälle, Todesfälle

Trasylol®

Herzmittel

Nierenversagen

Acomplia®

Schlankmacher

psychische Störungen, Suizid


Der unendliche Wissensdurst

Egal ob Geisteswissenschaft oder Naturwissenschaft – die Aufgabe der Grundlagenforschung ist in allen wissenschaftlichen Bereichen dieselbe: Sie soll grundlegende Fragestellungen wie „Was hält die Welt im Innersten zusammen?“ beantworten. Der Erkenntnisgewinn ist somit nicht unmittelbar einem praktischen Zweck zuzuführen, sondern dient in der Regel der Erweiterung des menschlichen Wissens über die Welt und darüber, wie sie und das Leben darin funktionieren. Sicher ist: Ohne Grundlagenforschung in den Wissenschaftsbereichen Chemie und Physik wäre das Zeitalter der Moderne mit all ihren Bequemlichkeiten und Innovationen alles andere als vorstellbar. Doch wie sieht es mit der Grundlagenforschung in der Biomedizin aus? Immerhin verschlingt der unendliche Wissensdurst der Wissenschaft allein in Deutschland knapp eine Million Tierleben pro Jahr. Zudem hat sich der Anteil der biomedizinischen Tierversuche für die Grundlagenforschung in Deutschland seit 1991 von 13 auf 60 Prozent mehr als vervierfacht.

Der Vorwurf gegenüber der Grundlagenforschung im biomedizinischen Bereich ist einfach: Sie sei eine reine „Neugierforschung“, zu deren Eigenzweck an Tieren experimentiert werde. Geht es nach der Wissenschaft, handelt es sich zumindest beim vorgeworfenen Selbstzweck der Forschung um einen Mythos, der bereits seit den 1970ern entkräftet werden konnte. 1975 gingen die Physiologen Julius H. Comroe und R. D. Dripps der Frage nach, welche Therapien nach der derzeitigen Meinung von Kardiologen und Lungenärzten die wichtigsten medizinischen Errungenschaften der letzten 30 Jahre seien. Unter den Top Ten befanden sich beispielsweise die Operation am offenen Herzen, der Bypass oder wirksame Hochblutdrucksenker. Nach einem ausführlichen Aufdröseln der dafür relevanten Wissensbereiche – von Narkose bis Blutgruppenbestimmung – wurde einer dieser Bausteine genauer untersucht. Das Ergebnis: Allein dieser eine notwendige Baustein basiert auf 2.500 wissenschaftliche Arbeiten, wovon 61,5 Prozent auf die Grundlagenforschung zurückzuführen sind. Grundlagenforschung somit per se als Selbstzweck zu bezeichnen, scheint unter diesem Aspekt als unangebracht. Über eines darf das Ergebnis von Dripps und Comroe jedoch keinesfalls hinwegtäuschen: Selbst wenn Tierversuche in der Grundlagenforschung tatsächlich zum Wohl der Menschen beitragen, existieren Gegenstudien, die den Nutzen der Tierversuche für die Biomedizin erheblich infrage stellen.

Toni Lindl et al. beschäftigten sich beispielsweise mit dem Nutzen von 51 Tierversuchen aus den Jahren 1991 bis 1993 für den Menschen. Innerhalb von 17 Jahren stand keines der Ergebnisse in einem Zusammenhang mit irgendeiner Therapie. Zwar wurden nach zehn Jahren „immerhin“ 0,3 Prozent der Ergebnisse auf den Menschen übertragen, die daraus resultierenden Befunde widersprachen dabei jedoch den Ergebnissen am Tier. Als Studienergebnis empfahlen die Autoren schließlich eine Erfolgskontrolle von Tierversuchen, um sowohl die Versuche als auch die Tierzahlen zu reduzieren. „Fördergelder könnten sinnvoller angelegt und neue Therapien effizienter und schneller erforscht werden“, heißt es im Abschluss der Studie.

Eine noch größer angelegte Studie im Jahr 2014 untersuchte 25.000 Artikel in renommierten Fachjournalen zur Grundlagenforschung aus den Jahren 1979 bis 1983. Der Studie nach enthielten nur 101 Artikel Aussagen, die den aus Tierversuchen gewonnenen Ergebnissen ein großes Potential zur klinischen Anwendung zusprachen. Bis 2003 führte allerdings nur Ergebnis davon zu einer breiten klinischen Anwendung – Erfolgsquote: 0,004 Prozent.

Wenn die Ausbeutung von Tierleben tatsächlich mit derart verschwindend geringen Erfolgsquoten und extremen Unsicherheiten in der Arzneimittelentwicklung einhergeht, stellt sich die Frage: Weshalb gelten Tierversuche immer noch als der Goldstandard der medizinischen Forschung?

Never touch a running system

2015 wurde der Europäischen Kommission die von 1,17 Millionen Europäern unterzeichnete Bürgerinitiative „Stop Vivisektion“ vorgelegt. Ihre Forderungen: die Abschaffung der Tierversuche in der biomedizinischen und toxikologischen Forschung und die verbindliche Verwendung von Daten, die direkte Relevanz für den Menschen haben. Die sinngemäße Antwort der Kommission: Auch sie teile die Überzeugung der Bürgerinitiative. Doch selbst wenn die Entwicklung alternativer Ansätze große Fortschritte mache, könnten diese die Tierversuche aufgrund der Komplexität der notwendigen Daten noch nicht ersetzen. Um jedoch alternative Methoden zu befördern, wären zwischen 2007 bis 2013 250 Millionen Euro bereitgestellt worden. Ebenso existierten weitere Planungen und Fördermittel.

Wirft man einen Blick auf die gesamten Fördersummen für biomedizinische Studien, sind diese Aussagen allerdings problematisch, da alleine in Deutschland mehrere Milliarden an Forschungsgeldern in Studien mit Tierversuchen investiert werden. So betrage das Jahresbudget der beiden größten durch offizielle Gelder finanzierten Forschungsgesellschaften in Deutschland, die Max-Planck-Gesellschaft und die Deutsche Forschungsgemeinschaft, laut den Ärzten gegen Tierversuche sage und schreibe 4,79 Milliarden. In Summe betrage der prozentuale Förderanteil für Forschungen, die auf Tierversuche zurückgreifen, über 99 Prozent. Alternative, tierversuchsfreie Studien erhalten in Deutschland hingegen kaum Aufmerksamkeit von den Investoren. Hierfür verantwortlich ist die grundsätzliche Förderung von Forschungseinrichtungen und -methoden, die einen hohen Impact-Faktor in einschlägigen Fachmagazinen aufweisen. Erhält eine Studie hohe Aufmerksamkeit, werden den Forschern weitere Fördermittel zu weiteren Studien zur Verfügung gestellt. Ist die Aufmerksamkeit gering, erweist sich das Werben um Gelder als schwierig und langwierig – für die Versuchstiere ein Teufelskreis.

Relevant in diesem Zusammenhang: Hinter den Tierversuchen steht eine Milliarden schwere Züchtungsindustrie, die für die Forschung notwendigen Tiermodelle wie Krebsmäuse produziert. Der US-amerikanische Konzern Cyagen bietet auf seiner Webpräsenz beispielsweise elf verschiedene Modelle an Mäusen und sieben Modelle an Ratten in seinem Portfolio an – Gesamtzahl der ausgelieferten Tiere von Cyagen: über 50.000 Stück. Im Vergleich zum weltweiten Gesamtbedarf an Tiermodellen ist das allerdings reichlich wenig. Allein in Deutschland wurden 2016 rund zwei Millionen produzierte Mausmodelle in Tierversuchen eingesetzt – je eine Million gezüchteter Mausmodelle und eine Million genetisch veränderter Mausmodelle. Da die Preise bei Cyagen beispielsweise bei über 17.000 Dollar pro Stück beginnen, locken die Hersteller mit Discountaktionen wie zehn oder 15 Prozent auf spezielle Mäuse und Ratten oder Slogans wie „Empfehle uns an einen Freund und erhalte einen 550 Dollar Apple Geschenkgutschein“. Spezielle Mäuse können hierbei bis zu 100.000 Dollar pro Stück kosten. Schätzungen zufolge liegt das Investitionsvolumen deutscher Forschungslabore beim Mäusekauf bei rund zwei Milliarden Euro pro Jahr.

In den letzten Jahren wurde es ruhig um die globalen oder auch nationalen Tierversuche. Doch gerade Horrorszenarien wie sie im LTP nahe Hamburg aufgedeckt wurden, erinnern uns daran, dass für unsere vermeintliche Gesundheit und Annehmlichkeiten Tiere tagtäglich ihr Leben lassen oder in teils grausamen Versuchsreihen zu Forschungszwecken „gequält“ werden. Der Nutzen für das Wohl der Menschen gleicht dabei jedoch einer Lotterie. Den Preis zahlen die Opfer wie die rund 10.000 Contergankinder, die an Lungenkrebs erkrankten Bauarbeiter, die mit dem vermeintlich bedenkenlosen Werkstoff Asbest umgingen, und hunderttausende Patienten, die jährlich aufgrund von Arzneimittelnebenwirkungen in die Krankenhäuser eingeliefert werden oder versterben. Medizinische Forschung ist ohne Zweifel unser aller Lebensgrundlage. Doch sind Tierversuche der richtige Weg?

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