Mut, Gemeinschaft und digitale Vernetzung – das Heldenkollektiv gibt Familien mit beeinträchtigten Kindern eine starke Stimme. Gründer Stefan Böttinger erzählt im Interview, wie aus einer persönlichen Krise ein Projekt mit Strahlkraft für viele wurde.
Wenn ein Kind schwer erkrankt, gerät das ganze Leben aus dem Gleichgewicht. Unterstützung ist dann wichtiger denn je – für die kleinen Patientinnen und Patienten ebenso wie für ihre Familien. Stefan Böttinger hat genau das selbst erlebt und aus dieser Erfahrung heraus eine Initiative gegründet, die Hoffnung und Hilfe schenken will. In unserem Interview spricht er über seine Motivation, die Herausforderungen – und darüber, warum Zusammenhalt manchmal die beste Medizin ist.
Herr Böttinger, können Sie uns erzählen, was Sie dazu bewegt hat, dieses Projekt ins Leben zu rufen?
Als wir im Jahr 2019 von der Diagnose unseres ungeborenen Sohnes erfahren haben, war dies ein tiefgreifender Einschnitt. In dieser Situation suchte ich zunächst nach Antworten: Was bedeutet „Hypoplastisches Rechtsherzsyndrom“? Und vor allem: Wie wird unsere neue Lebensrealität aussehen? Ich begann gezielt nach Erfahrungen anderer betroffener Familien zu suchen, um Orientierung, praktische Unterstützung und realistische Perspektiven zu erhalten. Dabei wurde schnell klar, vor welchen enormen Herausforderungen diese Familien täglich stehen – soziale Isolation, bürokratische Hürden, Zukunftsängste und emotionale Belastungen. Aus diesen Eindrücken und meiner eigenen Erfahrung heraus entstand schließlich die Idee für das Heldenkollektiv.
Das Heldenkollektiv bietet Eltern und Kindern mit Beeinträchtigungen Unterstützung und ein Netzwerk. Wie genau funktioniert dieses Netzwerk und wie profitieren die Familien davon?
Zentraler Bestandteil ist ein interaktives Freundebuch, das niederschwellige Kontakte ermöglicht und Familien miteinander verbindet. Im Gegensatz zu herkömmlichen sozialen Netzwerken stellen wir bewusst die Kinder mit ihren individuellen Heldenprofilen in den Mittelpunkt der Vernetzung. Um ein sicheres Umfeld zu gewährleisten, werden alle Nutzer:innen vorab verifiziert. So entstehen verlässliche Beziehungen, die den Alltag der Familien bereichern. Darüber hinaus gibt es mit den Heldenmissionen kleine Aufgaben zur Aktivierung und den Heldenumhang als physisches Zeichen.
Ein zentrales Thema im Heldenkollektiv ist das Stärken von Selbstbewusstsein. Welche Aktivitäten und Angebote helfen Kindern besonders, ihre eigenen Stärken zu erkennen?
Neben der Vernetzung und dem Austausch sind unsere Heldenmissionen ein wichtiger Baustein. Monatliche, spielerische Aufgaben fördern gezielt die individuellen Kompetenzen der Kinder und schaffen kleine Erfolgserlebnisse, die sich nachhaltig positiv auf ihr Selbstbild auswirken. Diese Erfolge werden in Form von digitalen Abzeichen auf den Heldenprofilen sichtbar gemacht.
Die „Heldenmissionen“ sind eine kreative Möglichkeit, um Kinder aktiv einzubinden. Was beinhalten diese Missionen, und wie fördern sie das Selbstvertrauen der Kinder?
Unsere Missionen reichen von kreativen Bastelprojekten über Umweltschutzaktionen wie Müllsammeln bis hin zu sportlichen Herausforderungen. Die Familien gestalten die Aufgaben individuell, Hauptsache, sie haben gemeinsam Freude daran. Indem Kinder Aufgaben eigenständig bewältigen, entdecken sie ihre persönlichen Stärken und entwickeln ein gestärktes Selbstvertrauen – eine wichtige Grundlage für soziale Teilhabe.
Für viele Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen kann es eine Herausforderung sein, Gleichgesinnte zu finden. Wie hilft das Heldenkollektiv diesen Eltern?
Im Heldenkollektiv vernetzen wir Familien gezielt über die Profile der Kinder. Dabei berücksichtigen wir Merkmale wie Wohnort, Alter, Diagnose und individuelle Bedürfnisse. Im Gegensatz zu klassischen Plattformen wie Facebook oder Instagram, die meist über die Profile der Eltern funktionieren, schaffen wir digitale Erlebnisräume, die echte Verbindungen zwischen den Kindern fördern und die digitale mit der analogen Welt verbinden. Diese neuen Kontakte stärken die ganze Familie – durch Erfahrungsaustausch und praktische Unterstützung im Alltag.
Ein einzigartiges Symbol des Heldenkollektivs ist der „Heldenumhang“. Warum ist er so bedeutend für die Kinder?
Der Heldenumhang ist ein sichtbares Symbol für Mut, innere Stärke und Zusammenhalt. Jeder Umhang wird individuell gestaltet und begleitet die Kinder in besonderen und herausfordernden Situationen. Er erinnert sie daran, was in ihnen steckt, und verbindet sie als Teil einer Gemeinschaft, die gemeinsam wächst und sich gegenseitig stärkt. Der Umhang stärkt nicht nur das Selbstbewusstsein, sondern vermittelt auch ein Gefühl der Zugehörigkeit.
Wie sehen Sie die Zukunft des Projekts?
Das gemeinnützige Projekt steht noch am Anfang. Besonders bestärkend ist, dass sich bereits über 480 Familien vorab angemeldet haben. Aktuell entwickeln wir die technische Plattform, bauen gezielt Partnerschaften auf und sichern die Finanzierung für die nächsten Entwicklungsphasen. In den kommenden Monaten wollen wir das Netzwerk kontinuierlich erweitern, noch mehr Familien erreichen und eine digitale Infrastruktur schaffen, die stabile Kontakte ermöglicht und langfristige Unterstützung bietet.
Was können Ihrer Meinung nach die Gesellschaft und die Medien tun, um mehr Akzeptanz und Verständnis für Kinder mit Beeinträchtigungen zu schaffen?
In Deutschland leben rund 415.000 Kinder und Jugendliche mit einer körperlichen, kognitiven oder psychischen Beeinträchtigung. Mit dem Heldenkollektiv wollen wir eine digitale Bewegung starten, die diesen Kindern mehr Raum und Sichtbarkeit gibt. Gesellschaft und Medien können dazu beitragen, indem sie die Perspektiven dieser Kinder in ihrer Vielfalt abbilden – nicht durch das Herausstellen von Defiziten, sondern indem sie zeigen, was diese Kinder erleben, gestalten und bewirken. Veränderung entsteht, wenn wir Lebensrealitäten nicht erklären oder bewerten, sondern sie selbstverständlich sichtbar machen.
Wie kann das Heldenkollektiv unterstützt werden?
Das Heldenkollektiv kann auf vielfältige Weise unterstützt werden: durch gezielte Partnerschaften, Spenden, aktives Engagement oder indem man unsere Idee weiterträgt. Unternehmen haben die Möglichkeit, sich im Rahmen von Corporate Social Responsibility (CSR) einzubringen – beispielsweise durch das Sponsoring unserer Superhelden-Umhänge oder Missions-Patenschaften, um Kinder direkt zu stärken. Betroffene Familien können sich auf unserer Plattform anmelden und weitere Familien einladen, um das Netzwerk wachsen zu lassen. Jeder Beitrag hilft, die Bewegung sichtbarer zu machen. Mehr Informationen gibt es auf unserer Website heldenkollektiv.org und auf Instagram unter @heldenkollektiv.
Ein Interview von Kathrin Gnilka I filterMagazin