Mehr als drei Viertel der Deutschen (77 Prozent) sind der Ansicht, die Gesellschaft sei zerrüttet. In keinem anderen Staat der Welt ist die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Spaltung so stark ausgeprägt wie in Deutschland. Dies geht aus dem aktuellen Ipsos Populism Report 2025 hervor, für den Bürger aus 31 Nationen befragt wurden.
Im globalen Durchschnitt sind 56 Prozent der Bürger der Meinung, die Gesellschaft in ihrem Land sei gespalten. Europaweit ist diese negative Grundhaltung lediglich in der Schweiz (32 Prozent), in Polen (40 Prozent) und in Italien (44 Prozent) nicht mehrheitsfähig.
Zwei von drei Deutschen sehen Deutschland im Abwärtstrend
Zwei Drittel der Deutschen (68 Prozent) glauben außerdem, dass es mit ihrem Land bergab geht. Das sind fünf Prozentpunkte mehr als noch 2023 und sogar 21 Prozentpunkte mehr als noch 2021. Mit dieser Ansicht stehen die Menschen in Deutschland allerdings nicht allein da: Insbesondere in vielen europäischen Ländern wie Frankreich (75 Prozent), den Niederlanden (69 Prozent), Großbritannien (68 Prozent), Ungarn oder Italien (je 66 Prozent) wird die Zukunft des eigenen Landes eher pessimistisch gesehen. Am zuversichtlichsten sind im europäischen Vergleich die Schweizer (29 Prozent) und die Polen (36 Prozent).
Ein starker Anführer – keine Lösung für die Deutschen
Zwar sagen die Deutschen im weltweiten Vergleich am ehesten, dass die Gesellschaft gespalten ist. Doch nur 24 Prozent der Bundesbürger glauben, dass ein starker Anführer, der bereit ist, Regeln zu brechen, eine Lösung der Probleme darstellt – so wenige Menschen wie in keinem anderen Land. Als einzige Nation sprechen sich die Deutschen mit 51 Prozent sogar mehrheitlich dagegen aus.
41 Prozent der Deutschen plädieren für einen starken Anführer, der das Land den Reichen und Mächtigen entreißt. Lediglich in der Schweiz (40 Prozent) ist dieser Wunsch noch etwas geringer ausgeprägt. Im Vergleich zu den Werten anderer G7-Länder liegt die Zustimmung in Deutschland jedoch deutlich darunter (Kanada und Großbritannien 71 Prozent, USA 68 Prozent, Frankreich 65 Prozent, Italien 61 Prozent, Japan 58 Prozent). Und das, obwohl etwa zwei Drittel der Bundesbürger (65 Prozent) der Meinung sind, das Land werde zugunsten der Reichen und Mächtigen manipuliert. Seit Beginn der Inflationskrise im Jahr 2022 hat sich diese Ansicht um zehn Prozentpunkte verstärkt.
Ausgeprägte Skepsis gegenüber Politik, Experten, Medien
Dass sich traditionelle Parteien und Politiker nicht um die Belange der einfachen Bürger kümmern, glaubt in Deutschland eine Mehrheit von 61 Prozent. Das entspricht einem Zuwachs von 12 Prozentpunkten in den letzten drei Jahren. Nur 17 Prozent der Deutschen sind dezidiert anderer Meinung. Gleichzeitig sind mehr als die Hälfte der Deutschen (52 Prozent) der Ansicht, dass die wichtigsten politischen Themen direkt vom Volk per Referendum und nicht von gewählten Vertretern entschieden werden sollten. Jeder Fünfte (19 Prozent) ist anderer Meinung, ein Viertel zeigt sich unentschieden (25 Prozent).
Doch nicht nur Politikern, sondern auch Experten wird mehrheitlich die Nähe zum Leben und Alltag der Menschen abgesprochen (53 Prozent). 60 Prozent der Deutschen sind außerdem der Meinung, dass Mainstream-Medien eher daran interessiert sind, Geld zu verdienen, als die Wahrheit zu berichten. Lediglich 15 Prozent sehen das anders.
Elite vs. Normalbürger: Politische Gesinnung prägt das Meinungsbild
Zwei Drittel (67 Prozent) der Deutschen glauben, die wesentliche Kluft in der Gesellschaft verlaufe zwischen normalen Bürgern und den politischen und wirtschaftlichen Eliten – also Personen mit Macht oder Einfluss in Politik, Wirtschaft, Medien, Technologie, Wissenschaft und Bildung. Dieser Wert entspricht in etwa dem Durchschnitt aller untersuchten Länder (68 Prozent), in Deutschland hat dieser Trend jedoch seit 2023 mit neun Prozentpunkten überdurchschnittlich stark zugenommen.
In der Aufschlüsselung nach Parteienaffinität zeigen sich deutliche Unterschiede: Vor allem Anhänger der Linken (75 Prozent) und Wähler der AfD (82 Prozent) sehen die Spaltung zwischen Eliten und einfachen Bürgern als entscheidend an.
Nationale Identität: Sprachfähigkeit und Eigeninitiative wichtiger als Geburtsort
Nur eine Minderheit von 39 Prozent der Bundesbürger hält es für wichtig, in Deutschland geboren zu sein, um als echter Deutscher zu gelten. Für mehr als die Hälfte (55 Prozent) spielt der Geburtsort hingegen keine Rolle. Die religiöse Zugehörigkeit ist für 77 Prozent der Deutschen kein relevantes Kriterium.
Anders sieht es bei der Sprache aus: Für 88 Prozent der Befragten ist die Beherrschung der deutschen Sprache ein entscheidender Faktor für die deutsche Identität. Auch der Versuch, aus eigener Kraft im Land voranzukommen, ist für die meisten Menschen in Deutschland (87 Prozent) entscheidend, um als Deutscher zu gelten. Ähnlich verhält es sich bei der Gleichbehandlung aller Menschen: 82 Prozent der Deutschen betrachten die Gleichbehandlung von Menschen unabhängig von ihrem Hintergrund als relevante Eigenschaft, um ein echter Deutscher zu sein.
Dr. Robert Grimm, Leiter der Politik- und Sozialforschung bei Ipsos, ordnet die Ergebnisse wie folgt ein: „Aus historischen Gründen ist der Führerbegriff in Deutschland stark belastet. Die Deutschen lehnen mehrheitlich einen ‚starken, regelbrechenden Anführer' als Herrschaftsform ab. Dies sollte jedoch nicht voreilig als Liebesbekenntnis zur Demokratie verstanden werden. Die Tatsache, dass die rechtspopulistische AfD im Februar erstmals als stärkste Oppositionspartei in den Bundestag eingezogen ist, verdeutlicht die Anziehungskraft extremer politischer Positionen. Hinzu kommt, dass in keinem anderen Land die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Spaltung so stark ausgeprägt ist wie in Deutschland. Demokraten stehen Antidemokraten gegenüber, der Osten dem Westen, Kriegsbefürworter den Putin-Sympathisanten, Privatpatienten den Kassenpatienten. Die Liste der gesellschaftspolitischen Debatten, die auf stark vereinfachten Argumentationen beruhen, ist lang. Auch die hohe Inflation der letzten Jahre hat im Land tiefe Spuren hinterlassen. Und die Politik bietet bisweilen kaum Antworten auf die Probleme der Bürgerinnen und Bürger. Da verwundert es nicht, dass die Kluft zwischen den Eliten und der Lebenswelt der ‚einfachen' Bevölkerung aus Sicht der Menschen in Deutschland zunimmt."
Methode
Dies sind die Ergebnisse der Studie The Ipsos Populism Report 2025, die von Ipsos auf der Online-Plattform Global Advisor in 31 Ländern durchgeführt wurde. Für die Online-Umfrage wurden zwischen Freitag, den 21. Februar, und Freitag, den 07. März, insgesamt 23.228 Personen befragt. In Deutschland waren die Befragten zwischen 16 und 74 Jahre alt, die Stichprobe umfasste rund 1.000 Personen.
Zu den 31 befragten Ländern gehören neben Deutschland: Argentinien, Australien, Belgien, Brasilien, Chile, Frankreich, Großbritannien, Indien, Indonesien, Irland, Italien, Japan, Kanada, Kolumbien, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Niederlande, Peru, Polen, Schweden, Schweiz, Singapur, Spanien, Südafrika, Südkorea, Thailand, Türkei, Ungarn, USA.
In 18 der 31 befragten Länder ist die Internetdurchdringung so hoch, dass die Stichproben als repräsentativ für die Gesamtbevölkerung in den untersuchten Altersgruppen angesehen werden können – darunter auch Deutschland.
Die Daten wurden so gewichtet, dass die Stichprobenzusammensetzung jedes Landes das demografische Profil der erwachsenen Bevölkerung gemäß den jüngsten Volkszählungsdaten bestmöglich widerspiegelt.
Ipsos GmbH / RNRed